++ ESSAYS  I

++ Peter Weibel
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++ Peter Weibel: Editorial
++ Vorstand des ZKM, Co-Kurator der Ausstellung

Die Ausstellung sowie der Ausstellungskatalog versuchen, den Einfluss der Globalisierung auf die zeitgenössische Kunst zu ergründen, einen neuen Kontinent der Kunst zu erschließen, der bisher unbekannt war und eine neue Geografie der Kunstproduktion zu finden, die durch ihre globale Expansion charakterisiert ist. Bisher wurde dies in diversen Biennalen thematisiert, die in den letzten Jahrzehnten überall auf der Welt veranstaltet wurden.
Mit unserer Ausstellung “Neue Asiatische Kunst. Thermocline of Art”, einer Überblicksschau über die zeitgenössische Kunstproduktion in 20 asiatischen Ländern, stellen wir die folgenden Fragen: Wie wird zeitgenössische Kunst heute in den Institutionen verschiedener Länder verstanden? Wie unterscheidet sich die Ausstellungspraxis im Bereich der zeitgenössischen globalen Kunst von der Präsentation moderner Kunst? Ist es wahr, dass die so genannte Moderne heutzutage gleichgesetzt wird mit der Hegemonie der westlichen Welt und mit der Ideologie der Moderne im Allgemeinen? Wie wird die Moderne in der globalen Kunst repräsentiert? Verändert die globale Kunstpraxis das Konzept von zeitgenössischer versus moderner Kunst? Welchen Einfluss hatte der Wandel von der modernen zur postmodernen Kunst im Westen der 1960er Jahre auf die Kunstkonzepte von heute? Wie wird zeitgenössische Kunst und Kunst im Allgemeinen an Orten der Welt verstanden, die keine Kunstgeschichte und Ausstellungstradition haben? Wird die westlich geprägte Moderne nur eine kleine Episode der Kunstgeschichte ausmachen und der Kanon der Kunst, der aus ihm erwachsen ist, nicht länger wirksam sein? Umfasst die globale zeitgenössische Kunst wirklich viel mehr als die moderne Kunst? Wird der Dualismus zwischen „hoch“ und „tief“, der für die Moderne so wichtig war, in heutigen Kulturen überleben? Was sagt die Kunst, als ein zeitgenössisches Phänomen, außerhalb von einem westlich geprägten Kontext aus? Repräsentiert es nur die aktuellsten Entwicklungen der modernen Kunst oder repräsentiert es etwas anderes, das die Vermittlung durch Museen verlangt?

Zeitgenössische Kunst – in einem westlichen Kontext betrachtet – bedeutete immer eine Aktualisierung der modernen Kunst, egal ob sie als post-modern oder neu bezeichnet wurde. Selbst in den Museen des Westens erfordert die Ausweitung der zeitgenössischen auf eine globale Kunst ein gründliches Umdenken.

Die traumatische Erfahrung zweier Weltkriege, des Holocausts und totalitärer Systeme wie Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus haben die Moderne in Europa geprägt. Im 19. Jahrhundert hat Europa die Moderne hervorgebracht und im 20. Jahrhundert die totalitären Systeme. Es wäre daher naiv, das Projekt der Moderne unkritisch fortzuschreiben. Schon Adorno und Horkheimer haben in ihrer Dialektik der Aufklärung (1944), die sie im Exil in Amerika während Hitlers und Stalins Herrschaft in Europa geschrieben haben, argumentiert, dass die Logik der aufklärerischen Rationalität, entwickelt am Plan der Beherrschung der Natur, auch zu einer Logik der Beherrschung von Menschen werden kann. Doch die Moderne hat sich gegenüber den Problemen der Nationalität, Partikularität und Universalität relativ blind gestellt, indem sie ihre Internationalität proklamierte. Von einer kritischen Postmoderne wurden unter dem Universalismus einer internationalen Weltkultur, die für alle Menschen und Völker gleich und deren Standard für alle verbindlich sei, die zentralen Herrschaftsmechanismen entdeckt, der Monopolanspruch einer universalen Normierung und Standardisierung der Welt unter der Perspektive eines ethnischen, geschlechts- und klassenspezifischen und nationalen Zentrismus. Die Moderne war eben nicht frei von der Logik des Nationalismus, der Religion, des Kapitals. Sie war nur ausgeblendet. Die so genannte Modernisierung war ebenfalls eine verdeckte Strategie der Kolonialisierung.
Europa entdeckt, dass seine imperialistische Expansion in Form einer universalen zivilisatorischen Funktion und im Namen der Modernisierung erfolgte. Die „universale“ freie Gesellschaft europäischer Prägung war die Kolonialisierung anderer Nationen, war die Verformung anderer Kulturen mit der europäischen Kultur im Namen von Freiheit, Fortschritt, Technik. Aber die Kolonisierung partikularer ethnischer Gruppen in multi-ethnischen Gesellschaften durch zentrumsorientierte Herrschaftsformen löst sich auf, wie es uns die Ereignisse in Osteuropa zeigen.
Das Problem ist schon in den multikulturellen Gesellschaften des Westens prophezeit worden, in denen die Minoritäten nicht die allgemein gängige Kunstdefinition mittragen. Insofern werden die ehemaligen Kolonialgebiete oder Entwicklungsländer einerseits ihre eigene Kunst produzieren – Kunst, die ihre Kultur repräsentiert – andererseits werden ihre Ansprüche auch einen Platz finden müssen in der globalen Kunst. Es ist erwiesen, dass Kunst und Politik mehr und mehr interagieren werden, oder sich auch gegenseitig behindern werden, wie besonders der Konflikt mit islamisch geprägten Ländern gezeigt hat. Es scheint, als würde die Zukunft der Kunst im 21. Jahrhundert in solchen Teilen der Erde geprägt werden, die bisher ihre Stimme noch nicht erhoben hatten. Es ist daher für Institutionen besonders wichtig, auf einen sich verändernden Kunstdiskurs zu reagieren, der eine neue Kartografie der Kulturen herausbildet.

Die Kritik der Moderne von einem außereuropäischen Standpunkt ist also die logische Folge der innereuropäischen Kritik am “weißen Würfel". Der Moderne wurde vorgeworfen, partikulare Eigenschaften der europäischen Lebenswelt doktrinär zu universalisieren. Die eigene Partikularität wurde zum allgemeinverbindlichen Kanon für alle Völker dieser Erde erhoben; ein kruder Essentialismus. So wurde unter Subjekt im Grunde das weiße männliche Subjekt des europäischen Bürgertums verstanden. Die subjektzentrierte Vernunft als ein begründendes Prinzip der Moderne wurde daher bereits dekonstruiert, indem statt des europäischen ein außereuropäisches oder statt des männlichen ein weibliches Subjekt eingesetzt wurde.

Der Aufstieg des Postmodernismus im Westen fällt in den gleichen Zeitraum wie der Diskurs des Postkolonialismus. Die postmoderne Dekonstruktion der großen logozentrischen Meistererzählungen der europäischen Kultur ist vergleichbar dem postkolonialen Projekt der Auflösung des Systems von Zentrum und Rand- im imperialen Diskurs. Die poststrukturalistischen Agenda wie die Kritik am cartesianischen Subjektbegriff, die Instabilität und Arbitrarität der Signifikation, die Lokalisation des Subjekts in der Sprache bzw. im Diskurs finden sich auf andere Weise wieder im postkolonialen Diskurs. Dekonstruktion und Dekolonisation haben also gemeinsame Agenda.
Im Kolonialismus werden die eigenen Wertvorstellungen auf fremde Gebiete ausgedehnt, wird die eigene Partikularität als universal gültig behauptet und den Anderen gewaltsam aufgezwungen. Kolonialisierung bedeutet territoriale, ökonomische, politische und kulturelle Unterwerfung, Aneignung, Ausbeutung anderer Länder und Völker, um die eigene Hegemonie und die Herrschaft des Eigenen weltweit durchzusetzen. Vereinfachend könnte man sagen, “Weltkunst" ist als “Westkunst" und “Westkunst" als “weiße Kunst" definiert worden. Die Idee der “Weltkunst" ist ein Kind der westlichen Zivilisation, geboren in der ideologischen Absicht, jede künstlerische Äußerung, die sich nicht dem westlichen Kanon anpasst, zu unterdrücken und auszuschließen. Daher sind unsere “Kunstmuseen" voll mit westlichen Kunstprodukten und für die Kunst anderer Zivilisationen, die wir auch als „ethnische Kunst“ bezeichnen, haben wir so genannte “Häuser der Kulturen" gebaut. In dieser Trennung kommt symptomatisch der kulturelle eurozentrische Exklusionsmechanismus zum Ausdruck. Die Trennung in “Kunstmuseum" und “Völkerkundemuseum" markiert genau die Grenzlinie von Inklusion und Exklusion. Wirkliche globale Kunst ist heute daher post-ethnisch.
Wie alle sozialen Systeme der Ersten Welt ist auch die Kunst in die Dialektik der Differenzierung eingebettet. Nur indem sich ein Stil unterscheide, wird er zum Stil. Nur in der Differenz entstehe Identität. Dieses System der Differenzierung produziert und betreibt logischerweise Ausgrenzung, sagt uns die Theorie der sozialen Systeme von Niklas Luhmann. Es drängt sich daher die Frage auf, ob das soziale System der Kunst im westlichen Sinne nicht selbst das bevorzugte Feld der Dialektik von Inklusion/ Exklusion ist und daher als kolonialer Diskurs definiert werden kann. Das Kunstsystem entscheidet im europäisch-nordamerikanischen Referenzrahmen, welche Produkte und Praktiken erstens als Kunst bzw. als relevante Kunst inkludiert werden, und zweitens, welche außereuropäischen Produkte und Praktiken in das europäisch-nordamerikanische Kunstsystem inkludiert werden. Die westliche Kultur zieht Grenzen zwischen sich und den anderen Völkern, Kulturen, Rassen, Religionen, schließt tendenziell das “Andere", nämlich Frauen, Farbige, Kinder, Alte, Homosexuelle etc. aus. Die Stimmen und das Wissen der Anderen werden marginalisiert oder ausgeschlossen. Daher seine These, dass die Kultur der westlichen Welt prinzipiell auf Exklusion beruht.

Der "weiße Würfel" bzw. "die weiße Zelle" sind Synonyme für Exklusion. Der reine Raum der Galerie ist nicht nur ästhetisch rein, sondern auch ethnisch, religiös, klassen- und geschlechtsspezifisch purifiziert, sodass man in den Museen hauptsächlich die Kunstwerke katholischer, weißer, europäischer oder nordamerikanischer Männer sieht. Die Kunst anderer Religionen und anderer Völker, eines anderen Geschlechts und anderer Kulturen, wird in den Museen moderner Kunst ausgeblendet. Oder ist in der Tat (moderne) Kunst nur eine europäische Erfindung, wie Jimmie Durham fragt. Kunst wurde paradoxerweise zum Synonym für Exklusion. Weltweit wird die historische Notwendigkeit erkennbar, nicht nur den "weißen Würfel", sondern die "weiße Kunst" als Feld von Praktiken der Dominierung, Zurückweisung und Ausschließung zu dekonstruieren und einen kulturellen "Remix"[1] bzw. ein "Remapping" der kulturellen Kartografie aus der Sicht einer kolonialen Kritik vorzunehmen. Die Landkarte der Kultur muß im Sinne einer wahrhaft globalen Kultur dekolonialisiert und ein neuer Atlas der Weltkunst kartografiert werden.
Der Wandel der Museumspolitik ist auch in solchen Institutionen sinnfällig, die Sammlungen von Objekten und Artefakten traditioneller Gesellschaften beherbergen. Es ist daher symptomatisch, dass ethnologische Museen heute in "Museum der Weltkulturen" umbenannt werden. Aber was wird als Kultur angesehen, schaut man über das Traditionelle hinaus? Man kann also fragen, ob zeitgenössische Kunst in manchen Teilen der Welt den Hohlraum ausfüllt, der durch den Verlust der materiellen Kultur im historischen Sinn entstanden ist. Die unterbrochene Produktion von Objekten, die vormals für Rituale vorgesehen waren, benötigt eine neue Definition von Kultur in einer globalen Welt. Ethnologische Museen haben oft auf die Ergebnisse von Studien (field work) verwiesen, die der Forschung anderer Kulturen dienten. Heute ändert sich die Neigung der Kultur gemeinsam mit der Funktion von Studien.
Es bleibt also die Frage, ob Museen sich an dieser Ethno/Kunst-Wende beteiligen können oder ob es neuer Zentren bedarf, die mit den Museen im Wettstreit stehen. Aus einer globalen Perspektive heraus betrachtet, ist die Zukunft von Museen eng verbunden mit der Zukunft der Kunst und den Konflikten, die in der Kunstszene ausgetragen werden. Einer dieser Konflikte wird die heimliche Abspaltung der Künste der verschiedenen Kulturen der Welt sein. Für die Kunst der westlichen Kulturen gibt es Kunstmuseen. Für die Kunst der nicht-westlichen Kulturen wurde bisher in ethnografischen Museen oder Institutionen wie dem "Haus der Kulturen" gezeigt. Aber die Kluft zwischen ethnischer Kunst und zeitgenössischer Kunst wird in einer globalen Welt immer schmaler werden.

Immer wieder stellen KünstlerInnen die Frage, ob die Kunst, wie wir sie kennen, nicht eine genuin europäische Erfindung ist. Zu den größten Leistungen Europas wird die Konstruktion einer Kunst gezählt, die als ausdifferenziertes soziales Subsystem (Niklas Luhman »Die Kunst der Gesellschaft«, 1995) eine eigene Autonomie, Souveränität und ein eigenes Regelsystem geschaffen hat. Dieses Schiff der Moderne wird nun von innen wie von außen analysiert. Wie der Philosoph Otto Neurath gesagt hat, »Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können« (Otto Neurath, 1932). In dieser Lage befindet sich auch die Kunst der Moderne. Unter dem Legitimationsdruck, dem sie seit der Aufklärung und deren Rationalitätsgebot unterliegt, muss sie sich selbst in Frage stellen.
Im Zeitalter der Globalisierung stellen andere Kulturen unsere Kunstauffassung in Frage. Das Ergebnis ist eine weit reichende Relativierung und wirft vor allem die Frage auf: Wie wird Kunstgeschichte nicht nur legitimiert, sondern wie wird die Geschichte der Kunst überhaupt konstruiert, nach welchen Regeln und Kriterien? Zeitgenössische Kunst heute beginnt dort, wo die Moderne endet. Man kann nicht »farewell to an idea« sagen (T.J. Clarke »Farewell to an Idea: Episodes from a History of Modernism«, 1999) und gleichzeitig auf dem Schiff des Modernismus weitersegeln. Mehrere Ausstellungen des ZKM widmen sich genau dieser Frage: Wie geht es weiter? Wohin geht die Fahrt? Welcher »turn« kann nach all den Wenden der Moderne – vom »Linguistic Turn« (Richard Rorty, 1967) zum »Pictorial Turn« (W.T.J. Mitchell, 1992) und »Iconic Turn« (Hubert Burda und Christa Maar, 2004) – noch folgen?
Eine Möglichkeit, die Situation zu bestimmen, ist die Beobachtung der globalen Kunst. Das ist jene Kunst, die heute produziert wird, – also zeitgenössische Kunst – die jedoch nicht in Europa oder Nordamerika, sondern jenseits von »Euramerika« (John Clark, 1999) entsteht. Global produzierte zeitgenössische Kunst ist wesentlich mehr als bloße Variation und Evolution der modernen Kunst. Von Kasachstan bis Südamerika, von Südafrika bis Bolivien wird zeitgenössische Kunst produziert, die sowohl nationale wie auch internationale Referenzen aufweist. Sie ist – mit den Worten von Hans Belting – posthistorisch und postethnisch.
In der Ausstellung mit mehr als 100 KünstlerInnen aus ca. 20 asiatischen Ländern von Japan über Korea bis China, von Südostasien bis Zentralasien wird zum ersten Mal ein umfassendes Bild der zeitgenössischen asiatischen Kunstproduktion geboten.
In den letzten zwei Jahren hat asiatische Kunst, vor allem Kunst aus dem boomenden China, auch im deutschsprachigen Raum von Bern bis Hamburg museale Aufmerksamkeit errungen. Diese bisherigen Ausstellungen wurden jedoch von europäischen Sammlern oder westlichen Kuratoren vorgestellt. Mit der Schau im ZKM | Museum für Neue Kunst wird in Deutschland zum ersten Mal asiatische Kunst aus der Perspektive eines asiatischen Kurators in einer großen Ausstellung vorgestellt. Der Kurator Wonil Rhee, Leiter der Seoul Media City und der Shanghai Biennale, gilt als anerkannter Experte asiatischer Kunst.
Es werden dabei nicht nur international anerkannte, in den Westen emigrierte KünstlerInnen vorgestellt, sondern vor allem auch aufstrebende KünstlerInnen, die noch in ihren Heimatländern – von Kasachstan bis Korea, von der Mongolei bis Indonesien – leben. Diese Kunst zeigt andere Werte und Kriterien als die westliche Kunst oder die Kunst, die im Westen und für den westlichen Kunstmarkt produziert wird. Sie ist eine postmoderne und postethnische Kunst, die in Malerei, Installation, Film, Video, Fotografien, Skulptur und Objekt das Konfliktpotential der Globalisierung und ihre Effekte auf den asiatischen Raum zeigt. Es eröffnet sich ein Panorama von Kunst, das die Grenzen unseres Kunstverständnisses gelegentlich überschreitet.

[1] Erica Carter, James Donald, Judith Squires, Cultural Remix. Theories of Politics and the Popular, Lawrence & Wishart, London 1995 ^
++ dem Ausstellungskatalog Thermocline of Art. New Asian Waves entnommen.