++ ESSAYS  II

++ Peter Weibel
++ Gregor Jansen
++ Huang Du
++ Nicole Wong
++ Nancy Adajania
++ Eugene Tan
++ Yukie Kamiya
++ Pi Li
++ Josef Ng


++ Gregor Jansen: Über die Veränderung der 'großen Erzählungen' angesichts Thermocline of Art. New Asian Waves
++ Leiter des ZKM | Museum für Neue Kunst, Co-Kurator der Ausstellung

Das große Abenteuer 1271 brach ein venezianischer Händler auf gen Osten – mit seinem Vater und Onkel, gerade mal 17 Jahre alt. Sie reisten in die unbekannte Ferne bis nach China. Ein weltberühmter Name, denn Marco Polo ist bis heute gleichbedeutend mit Entdeckung, Reise und Abenteuer. Seine Berichte waren in damaliger Zeit nahezu unglaublich, sogar bis heute tauchen immer wieder Zweifel auf: Ist er wirklich nach China gereist? Die These, er sei gar nicht selbst in China gewesen und gebe in diesem Teil seines Reiseberichtes nur dasjenige wieder, was er im Orient von anderen Chinareisenden gehört hatte, stützt sich, laut vieler Historiker, darauf, dass in seinen Reisebeschreibungen nicht die bis heute sagenhafte chinesische Mauer, nicht die sensationell bildhaften, typischen chinesischen Schriftzeichen, das für militärische Zwecke oder als feierliches Feuerwerk verwandte Schießpulver und auch nicht der schon damals in China weit verbreitete Buchdruck - der erst 200 Jahre später in Nürnberg die Gutenberg-Galaxis begründete - Erwähnung findet. Es scheint kaum nachvollziehbar, dass jemand, der gut zehn Jahre als Beamter des Großkhans in Diensten stand, diese eigentümlichen Dinge nicht aufführt. Andererseits werden Reiseeindrücke aus anderen Gegenden von ihm wiederum sehr präzise wiedergegeben. Wer reist, sieht viel und nicht nur jeder Reisende weiß, dass man nur sieht, was man weiß – insofern ist die Anschauung das absolute Fundament der Erkenntnis. [1] Eine weise Einsicht, die auch und gerade in der außereuropäischen Kunst uns Europäern nahe gebracht werden muss – aber auch umgekehrt, nicht nur in oder von Venedig aus.

Der Orient im Okzident Zur wichtigsten Kunstausstellung der Welt, der diesjährigen documenta 12 in Kassel, lädt der Chinese Ai Wei Wei 1001 seiner Landsleute nach Deutschland ein. [2] 1001 Menschen? Das klingt weniger wie Kunst oder Performance, sondern eher wie eine unglaubliche Geschichte aus dem Morgenland. Diese vor allem logistisch beeindruckende Aktion könnte die teuerste der Kunstgeschichte werden. Es ist schön, wenn so viel Geld zur Verfügung steht, welches die im globalen Cash-Flow und Wirtschaftsaustausch nie zur Debatte stehenden Randgruppen wie Bauern, Arbeiter, Lehrer, Studenten, Fischer, Polizisten, Köche, Gärtner, Kunstliebhaber, Architekten in den Genuss einer Reise und eines Kunstevents, aber dennoch der eigenen Anschauung sehr viel näher bringen wird. Sie alle mussten sich bewerben mit einem Brief an den Gönner. "Alle schrieben", so betont Ai, "dass sie Teil dieses 'Märchens' sein wollten. Viele kommen aus abgelegenen Dörfern, kämpfen mit fast hoffnungslosen Lebensbedingungen. Die meisten dieser Menschen hätten sonst niemals die Chance, zur documenta zu reisen." Hoffen wir, dass es ihr Leben nachhaltig verändern wird.

Die Welt ist kleiner geworden Jedenfalls was die Möglichkeiten angeht, sie zu bereisen und zusammenzuführen, denn dank neuer Informationstechnologien und Reisezeitverkürzungen sind alle ein Stück näher gerückt. Dennoch bleibt nicht nur China, sondern ganz Asien für viele Menschen der westlichen Welt ein fremder Planet – und vice versa. Die kulturellen Unterschiede sind massiv und auch die Hoffnungen, Erwartungen und Träume sind bei allen menschlichen Parallelen bisweilen grundverschieden. Der aktuelle „Almanach 2007“ des Magazins ArtAsiaPacific [3] ist insofern wie ein Handbuch und Who-is-Who zur kulturellen Lage dieser Region anzusehen und auch eine gute Informationsbasis für die vorliegende Unternehmung. Es geht somit in Projekten wie in unserer Ausstellung "Neue Asiatische Kunst. Thermocline of Art" auch darum, Kunst einer unüberschaubar großen Region in einen erweiterten, aber überschaubaren Kontext zu stellen. Bei der Vorbereitung der Ausstellung wurden im kuratorischen Team die Differenzen zwischen den Betrachtungsweisen und konzeptuellen Ansätzen oder auch die Marktrelevanz und die Diskursfähigkeit immer wieder bewusst. Die vom Koreaner Wonil Rhee kuratierte Ausstellung als ein Einblick in die gegenwärtige asiatische Kunstlandschaft steht in Relation zur westlichen, euro-amerikanischen Moderne und Postmoderne, und es ist - ob in Venedig, Kassel oder Karlsruhe - eine Tatsache, dass der Kunst als Kultur-, Bildungs- und nicht zuletzt Wirtschaftsfaktor eine immer größere Bedeutung zukommt. Davon konnte Marco Polo nur träumen.

Asien boomt Über das übliche Maß wirtschaftlicher Beziehungen hinaus ist seit einem Jahrzehnt auch eine verstärkte Wechselbeziehung zwischen Osten und Westen in kulturellen Dimensionen zu verzeichnen. Das Interesse an ästhetischen High- und Low-Produkten, an Nahrungsmitteln, Kleidung und Design aus Fernost, an Harmoniegesetzen oder Spiritismus ist mehr als eine kulturimperialistische Vermarktungsstrategie aus den Reichen der Zeichen. Es gibt mittlerweile kaum einen Bereich, in dem ostasiatische Tradition gepaart mit vermarktbarer Zeitgenossenschaft nicht eine irgendwie fruchtbare Koalition eingegangen wäre. Ob die Gründe hierfür in einigen Jahren als neoromantischer Exotismus postmodernistischer Globalisierungstendenzen des Europäers aufscheinen oder als authentischere Bereicherung der pluralistischen Oberflächen hierzulande geschätzt werden, kann noch nicht eindeutig beurteilt werden; doch es herrscht ein Asien-Trend vor: Wenn das 20. Jahrhundert das Jahrhundert Amerikas war, dürfte das 21. Jahrhundert das Asiens werden.

cities on the move Ein Beleg war die bereits vor zehn Jahren vom Schweizer Hans Ulrich Obrist und dem Hongkong-Chinesen Hou Hanru gemeinsam konzipierte Ausstellung "cities on the move". [4] Die Bestandsaufnahme von Architektur und Kunst aus den asiatischen Megapoleis reiste erfolgreich durch die westliche Welt. Im Jahre 1997 verursachten jedoch die Bankenskandale und Börsencrashs eine Verschiebung im Umgang mit den asiatischen Handelspartnern. Das langjährige Vertrauen in eine der Wirtschaftsmächte der globalen Nachkriegszeit hatte im speziellen bei Japan zu einem neuen, veränderten und in erster Linie kritischen Blick auf die angeblich so vorbildhafte, teilweise enorm sozialverkitschte, "bienenfleissige" Gesellschaft geführt. Die besondere Mischung aus Tradition und Fortschritt, die unheimliche Regelhaftigkeit einer bis in kleinste Lebensbereiche strukturierten Gesellschaft, dieses „Erfolgsmodell" bekam Risse und bröckelte.

Der Große Drache Heute steht China mit seinen gigantischen Währungsreserven von über einer Billion Dollar an der Spitze der Welt und hat auf die internationalen Finanzmärkte enormen Einfluss. Übermütige Investitionen beabsichtigt China damit jedoch offenbar nicht. Ein Großteil von Chinas Geldanlagen steckt derzeit in US-Staatsanleihen. Dies birgt unkalkulierbare Gefahren für die amerikanische Währung. Experten und der Internationale Währungsfonds (IWF) vermuten, dass je nach Anlagestrategie schnell eine gewaltige Summe zusammen kommt: Die gesamten Reserven Chinas werden sich schon in vier Jahren auf zwei Billionen Dollar belaufen, die den "Großen Drachen" zum Leittier unter den benachbarten Tigern machen. Wäre China eine liberale Demokratie hätte es gegenüber dem Weltmarkt viel weniger Macht. Aber auch im Kunstmarkt Chinas ist der Boom unaufhaltsam. Der Markt für zeitgenössische Kunst wächst schnell, zu schnell ... und ist die einzige Branche, in der die Existenz des Westens nicht auf dem Spiel steht, ist doch die Einheit von Demokratie und Wohlstand gebrochen.

Zynischer Realismus Die Auktionsergebnisse aus dem Jahr 2006 zeigen, dass die zeitgenössische chinesische Kunst weltweit zu den am schnellsten wachsenden Feldern des Kunstmarkts zählt. [5] Während Sotheby's und Christie's mit Gegenwartskunst aus Asien vor zwei Jahren gerade einmal 22 Millionen Dollar verdienten, hat sich das Volumen 2006 auf 190 Millionen Dollar verneunfacht. Die international erfolgreichsten Richtungen lauten "Zynischer Realismus" und "Politischer Pop". Ein aktueller, neuer Hype mit frischer Ware für den dürstenden Kunstmarkt soll aus Indien kommen...
Auktionen heizen den Markt an und Wartelisten für neue Kunstwerke sind Standard. Einer der Hauptgründe für die Knappheit ist die zunehmende Zahl zahlungskräftiger chinesischer Interessenten – Gewinner der ökonomischen Neuordnungen. Anders als für die wenigen ernst zu nehmenden Sammler, die sich – wie etwa der Pekinger Guan Yi [6] – auch für konzeptionelle Kunst, für Videoarbeiten und Installationen interessieren, ist der Kunsterwerb für die meisten Chinesen in erster Linie eine Kapitalanlage, an die sie allein Hoffnungen auf schnelle Wertsteigerungen knüpfen. Und dieses Interesse zeigt Folgen: Zu Beginn der 1990er Jahre gab es in Peking fünf Galerien, heute sind es vor allem im Kunstareal Dashanzi 798 über hundert. [7] Dennoch muss wie in Japan oder Südkorea das Angebot vieler Kunstgalerien aus westlicher Perspektive kritisch betrachtet werden. [8] Aber eine kapitalistisch orientierte Regierung, die mit der Losung, bis 2012 "einhundert" Museen zu bauen, an die Öffentlichkeit geht, zieht Privatinvestoren nach und sieht in der Kultur ein überaus lukratives Geschäft. Auch das Guggenheim-Museum soll in Peking eine Dependance planen, das Centre Pompidou will 2009 in Shanghai eine Zweigstelle eröffnen und Hongkong plant ein riesiges "Museum Plus" (M+) für ganz Asien: "Instead of being collection based, M+ places an emphasis on contextual curatorial interpretation by highlighting the 'Hong Kong perspective'". [9] Kritiker wie Oscar Ho warnen jedoch bereits vor der Gefahr einer totalen Ökonomisierung. Es mangelt, so ihre Klage, an freien Organen der Kritik und öffentlichen Institutionen der Förderung. Auch Gao Minglu oder Li Xianting streiten seit Jahren in Texten und mit Ausstellungen für eine Entschleunigung des Kunstmarkts und ein historisches Bewusstsein. [10]

[1] Nach dem Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827). ^
[2] Vgl. Henrik Bork: Die Chinesen kommen. Mit 1001 Chinesen zur Documenta. Ein Interview mit Ai Weiwei, in: Süddeutsche Zeitung, 02.04.2007 ^
[3] ArtAsiaPacific (A.A.P.), Almanac 2007, vol. 2, 2007 – from Afganistan to Yemen: sixtyseven countries. ^
[4] "Cities on the move", vgl. Kat. Wien Secession 1997 ^
[5] Vgl. hierzu Birgit Hopfener, In: DIE ZEIT, 01.02.2007 Nr. 06 - 06/2007 ^
[6] Vgl. Interview von Ingo Niermann mit Guang Yi, in: Ausst.Kat. Karlsruhe 2006, totalstadt. beijing case, hrsg. von Gregor Jansen, Köln 2006: 298-301. ^
[7] Vgl. Wu Hung, ebda: 243-249. / Wu Hung (Hrsg.), RongRong & Inri: Tui-Transfiguration, Peking 2004 ^
[8] Auch aus östlicher, wie das Statement von Oscar Ho aus Hongkong beweißt. In: A.A.P. (Anm. 2): 141. ^
[9] Ebd. ^
[10] Vgl. Gao Minglu, Ausst.Kat. Millenium Art Museum, Beijing 2005, The Wall. Reshaping Contemporary Chinese Art; Zu Li Xianting bspw.: L.X., Der Kulturzerfall und die zeitgenössische chinesische Kunst, in: Ausst.Kat. Kunstmuseum Bern 2005, mahjong. Chinesische Gegenwartskunst aus der Sammlung Uli Sigg, hrsg. von Bernhard Fibicher und Matthias Frehner: 24-27. ^
++ Auszug aus dem Ausstellungskatalog Thermocline of Art. New Asian Waves