Kuratorisches Konzept
Die Welt des Sichtbaren und des Sehens ist bekanntlich die Welt des Lichts.
Die Kunst als Feld des Sichtbaren ist - wie die Malerei zeigt - schon
immer an das Universum des Lichts gebunden. Das Rätsel um das Wesen
des Lichts wurde 1905 von Albert Einstein mit der Welle-Teilchen-Dualität
gelöst. Licht ist sowohl eine elektromagnetische Welle als auch ein
Strom von Teilchen. Es ist eine Form von Energie, die sich im luftleeren
Raum mit einer Geschwindigkeit von 299.792.458 m/s ausbreitet. Trifft
Licht auf prismatische Strukturen, so teilt es sich in verschiedene Wellenlängen
auf, die als Farben sichtbar werden. Seine Beleuchtungsstärke wird
in Lux gemessen und Lumen bezeichnet den Lichtstrom bzw. die Lichtmenge,
die von einer Lichtquelle ausgeht.
Die Malerei hat sich vorwiegend auf die Abbildung des natürlichen
Lichts und die aus der Optik und anderen Bereichen bekannten Wellenphänomene
konzentriert. Erst seit der Entdeckung von Heinrich Hertz 1889 in Karlsruhe,
»daß die elektrischen Wellen sich ganz nach Art der optischen
Wellen fortpflanzen« (Max Planck, 1894) und die gleiche Geschwindigkeit
besitzen, es also eine reale wie symbolische Beziehung zwischen Licht
und Elektrizität gibt, prägt uns alle das Universum des künstlichen
Lichts.
Wie kaum ein anderes Medium hat das elektrische Licht in den letzten einhundert
Jahren unseren Lebensraum revolutioniert und demokratisiert. Vielfältigste
Bereiche des Alltags, des Berufslebens, des Konsums, der Medienwelt usw.
haben sich durch das künstliche Licht verändert - so auch die
Kunst. In einer vorher nie da gewesenen Fülle und Form erleuchtet
künstliches Licht seit Beginn des letzten Jahrhunderts mehr und mehr
Straßen, Schaufenster, Reklameschilder und Häuser. Wir wohnen
in Städten und Gärten des Lichts. Vom Flugzeug oder Satelliten
aus betrachtet wirkt die nächtliche, illuminierte Erde selbst wie
ein Sternenhaufen. Lichtwerke wurden zu künstlichen Sternen, wodurch
sich die Welt des Sichtbaren und das Leben der Menschen insgesamt verändert
hat. Nach dem Sieg über die Nacht und die Sonne leben wir in künstlichen
Lichtparadiesen.
Seit beinahe einhundert Jahren setzen sich KünstlerInnen mit dem
immateriellen Medium in Form von Glühbirnen, Leuchtstoff- oder Neonröhren,
glimmenden LEDs oder leistungsstarken Scheinwerfern auseinander. Die Kunst
hat sich von der illusionären Repräsentation des natürlichen
Lichts immer mehr dem realen Einsatz des künstlichen Lichts zugewandt.
Das Kunstwerk verwandelte sich von einem Schirm der Darstellung der Wellenphänomene
des natürlichen Lichts - prismatische Zerlegung in Regenbogenfarben
- zu einem realen Sender von Elektronen und Photonen des künstlichen
Lichts. KünstlerInnen schaffen autonome, leuchtende Objekte und Räume
oder illuminieren gar Landschaften.
Die Elektrifizierung der Welt hat KünstlerInnen unterschiedlichster
Richtungen wie Futurismus, Konstruktivismus, Kinetismus-Farbmusik und
Bauhaus begeistert. Das immaterielle künstliche Licht schuf über
Kunstrichtungen wie Materialmalerei, Film, Kinetik und Op Art ein eigenständiges
Medium: die Lichtkunst.
Pioniere der Lichtkunst wie László Moholy-Nagy, Thomas Wilfred
oder Zdenĕk Pešánek verdeutlichen, welche elementare Anziehungskraft von
diesem Medium auf die KünstlerInnen ausgegangen ist. Ebenso zeigen
dies zeitgleich die Avantgardefilme der 1920er Jahre von Hans Richter,
Walter Ruttmann, Viking Eggeling und Oskar Fischinger.
Anhand raumgreifender Installationen, Neupräsentationen und Rekonstruktionen
historisch bedeutender Lichtobjekte, -installationen und -environments
demonstriert die Ausstellung, wie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts,
insbesondere den 60er Jahren, das Medium Licht verstärkt auf das
Interesse zahlreicher europäischer Künstlergruppen stieß
und wie diese mit Licht, Farbe und Bewegung umgegangen sind. Herausragende
Werkgruppen von ZERO (Deutschland), GRAV (Frankreich), Gruppo T und Gruppo
N (Italien) dokumentieren den Beginn immersiver und interaktiver, sogar
virtueller Environments. Dabei setzten viele KünstlerInnen das elektrische
Licht nicht nur statisch ein, sondern verbanden es auch mit kinetischen
Elementen. Zu erfahren sind in diesem Kontext faszinierende Arbeiten von
Nicolas Schöffer, Jean Tinguely oder Gerhard von Graevenitz.
Erstmalig präsentiert die spektakuläre Ausstellung im ZKM|Museum
für Neue Kunst die klassischen Highlights der Lichtkunst, wobei gerade
die jüngste Gegenwart überraschende Rückbezüge offenbart.
Frühe Positionen bedeutender Künstler wie Dan Flavin, Bruce
Nauman, Keith Sonnier, James Turrell, Mario Merz, François Morellet,
Ferdinand Kriwet und Maurizio Nannucci verdeutlichen den Einsatz und die
Wichtigkeit von künstlichem Licht in Konzeptkunst, Op Art, Arte Povera,
u.a.
Aktuelle Produktionen belegen das schillernde Spektrum der vielfältigen
Auseinandersetzungen mit dem künstlichen Licht. Die Ästhetisierung
konzeptioneller, designbezogener oder physikalischer Problem- und Wahrnehmungsfelder
des immateriellen Lichts verdeutlichen Werke von Heimo Zobernig, Sylvie
Fleury, Jenny Holzer oder Cerith Wyn Evans, neben Jorge Pardo, Tobias
Rehberger oder Olafur Eliasson. Ob ästhetisch, provokant,
anspielungsreich oder reduziert, privat oder öffentlich: Tracey Emin,
Martin Boyce, Hermann Pitz, Mischa Kuball, Tatsuo Miyajima oder Mike Kelley
- in den komplexen Feldern der Lichtbezüge zwischen Avantgarde und
Pop wird die Faszination des Mediums üppig und bunt beleuchtet. Die
aktuellsten Beiträge und neuesten Technologien, das postmoderne Spiel
der Formen und Inhalte, für das exemplarisch Berta Fischer, Benita
Liebel, Anselm Reyle, Simon Dybbroe Møller, Björn Dahlem aber
auch Jason Rhoades oder Zaha Hadid stehen, faszinieren in tiefgründigen
Lichtsphären, ironischen Querverweisen und filigranen Lichtspielen.
Ein wahres Feuerwerk der beeindruckend großen und wunderschönen
Bandbreite der Lichtkunst aus Kunstlicht entfaltet sich im ZKM|Museum
für Neue Kunst.
Die Ausstellung verlässt den musealen Kontext, um auch nachts ihre
Aura entfalten zu können und dem Thema weitere Bezugsfelder zu ermöglichen.
Auf dem Außengelände des ZKM sind ortsspezifische Lichtobjekte,
-skulpturen und -installationen zu sehen, die in den Stadtraum strahlen
und wirken.
Mit der Ausstellung Lichtkunst aus Kunstlicht erweitert das ZKM|Museum
für Neue Kunst seine Kooperation mit hochkarätigen, international
renommierten Sammlungen. Die bewährte Zusammenarbeit mit den Privatsammlungen
Boros, FER, Froehlich, Grässlin und Weishaupt wird durch die Hinzunahmen
großzügiger Leihgaben von T-B A21 (Thyssen-Bornemisza Art Contemporary,
Vienna), der Landesbank Baden-Württemberg, der Stiftung VAF, Frankfurt/M.
- Rovereto und anderer assoziierter privater Leihgeber sinnvoll ergänzt.
Zu der Ausstellung erscheint ein umfangreicher Katalog von ca. 400 Seiten
mit Abbildungen der ausgestellten Werke. In den Essays werden nicht nur
die Exponate besprochen und analysiert, sondern auch das Phänomen
Licht aus naturwissenschaftlicher, philosophischer und kunsthistorischer
Perspektive beleuchtet. Außerdem ergänzen Texte einzelner Licht-KünstlerInnen
den Blick auf das Licht als Medium der Kunst.
Kuratoren: Peter Weibel, Gregor Jansen
Kuratorische Assistenz: Andreas F. Beitin, Yvonne Ziegler
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