Author:   Kevin Wells  
Posted: 19.05.2003; 18:19:03
Topic: ARCHIV - IN SEARCH OF - THEMEN/FRAGEN - 02
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(IN SEARCH OF)THE PERFECT LOVER << zurück010203weiter >>

Raymond Pettibon, Ohne Titel [An infinite fountain of line],
1991, Tusche und Tinte auf Papier, 56 x 43,5 cm,
(Sammlung Hauser und Wirth, St.Gallen)


Medium Zeichnung


Vielen gilt die Zeichnung als nicht-körperliches Speicher- und Erinnerungsmedium, als intimer und unmittelbarer Ausdruck des Künstler-Ichs, nur selten durch nachträgliche Korrektur geglättet. Diese Eigenschaft deutet eine Nähe zum künstlerischen Denken an, verspricht sie doch Einblick in den kreativen Impuls.

Zeichnen bedeutet die Berührung einer Oberfläche, vergleichbar der Berührung der menschlichen Haut, und so ist dem »Gedankenmedium« Zeichnung trotz seiner Flüchtigkeit etwas sehr Körperliches eigen: sie hinterlässt eine Spur, schreibt sich ein, verletzt eine Haut, dringt in die Tiefe. So intim die Zeichnung sein kann und an das Schreiben eines persönlichen Tagebuchs oder eines Briefes erinnern mag, so ist sie ebenso ein Medium der Entäußerung, durch das sich die oder der Zeichnende von dunklen Ahnungen, Gedanken und Affekten befreit, diese gleichsam aufs Papier wirft und aus der eigenen Psyche herauszuführen sucht.

Die Ausstellung »(In Search of) The Perfect Lover« ist diesem Verhältnis von Berührungssehnsucht, Oberfläche, Körperlichkeit, Aggressivität und Verletzlichkeit auf der Spur. Das Arbeiten auf und mit dem fragilen Trägerstoff Papier lässt sich lesen als Ausdruck erotischen Begehrens: Zeichnen als Liebesakt, mit all seinen Facetten von Leidenschaftlichkeit und Zartheit, Besitznahme und Gewalt, Hemmungslosigkeit und Vereinsamung. Kreative Energie ist immer eng an das eigene (eben nicht biologisch feststehende, sondern sich – auch zeichnerisch – fortlaufend selbst interpretierende) Geschlecht geknüpft. Alle vier Künstlerinnen und Künstler zeigen das biologische Geschlecht nicht als deckungsgleich mit dem sozialen Geschlecht, vielmehr sind alle vier Werke mit dem Unterschied, mit der mitunter extremen Spannung von angeborenem Geschlecht und individueller sowie sozialisatorischer Interpretation der Geschlechterrolle befasst. Louise Bourgeois und Marlene Dumas stellen in ihren Zeichnungen und als Bildautorinnen Stereotypen von Weiblichkeit nachhaltig in Frage, während Paul McCarthy und Raymond Pettibon die in unserer Gesellschaft nach wie vor als dominant akzeptierte Männerrolle zeichnerisch geradezu zersetzen.

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