Author:   Kevin Wells  
Posted: 15.11.2002; 16:54:58
Topic: ARCHIV - WOHLTAT DER KUNST
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DIE WOHLTAT DER KUNST << zurückweiter >>

Mona Hatoum, »No Way«, »No Way II«, 1996,
Emaillierter und rostfreier Stahl 13 x 27 x 23 cm
und 7 x 40,5 x 12,8 cm



Mona Hatoum

Nicht zuletzt wegen seines psychoanalytisch so verräterischen Plots gilt „Deep Throat“ als ein Klassiker des Pornofilms, der auch finanziell einer der erfolgreichsten seines Genres ist. Die Notwendigkeit, sich den Penis/Phallus oral einzuverleiben, wird in dem 1972 von Gerard Damiano gedrehten Film mit der Anatomie der Hauptdarstellerin, Linda Lovelace, begründet, die tief in ihrem Rachen ihr eigentliches Lustzentrum lokalisiert haben soll. Zu einer Zeit produziert, in der ausführlich über die Lustzentren und Lustmöglichkeiten der Frau, ob klitoral, vaginal, anal oder wie auch immer, auf einem biologisch, anatomischen Niveau diskutiert und Vieles in Zweifel gezogen wurde, was vor allem heterosexuelle Praktiken anging, konstruierte „Deep Throat“ mit einem anatomischen Märchen eine medizinische Rechtfertigung für die orale Befriedigung der Frau durch den Phallus.
Der Titel des Pornofilms stand sicherlich Pate für die gleichnamige Arbeit von Mona Hatoum aus dem Jahre 1996. Zwei Jahre vorher hatte die Künstlerin mit „Corps étranger“ ein Projekt realisieren können, das sie seit ihren künstlerischen Anfängen zu Beginn der 1980er Jahre mit Performance-orientierten Arbeiten, die oft Video und Videoüberwachung integrierten, plante. Mittels der medizinischen Techniken von Endoskopie, Koloskopie und Echographie hatte sie eine visuelle und akustische Reise über die Oberfläche ihres Körpers und hinein in alle ihre Körperöffnungen inszeniert.
Grenzen und Verbote, mit denen die Körperöffnungen besetzt sind, gelten bei vielen Psychoanalytikern als maßgeblich für die Entwicklung des individuellen Subjekts und ermöglichen erst die Differenzierung zwischen Selbst und Anderem. „Corps étranger“ zeigt den Körper in Bildsequenzen, nie als Ganzes, aber in seinen Teilen gleichwertig, ohne Grenzen zwischen Innen oder Außen. Die Hierarchie zwischen den Öffnungen, die gesellschaftlichen Konventionen, Regeln und Tabus, die den Körper konstruieren, werden außer Kraft gesetzt.
„Deep Throat“ konzentriert sich auf eine der Körperöffnungen. Im Kreisrund eines Tellers auf einem schlicht gedeckten Tisch mit Messer, Gabel und Trinkglas serviert uns „Deep Throat“ den Blick hinein in den Mund, Rachen und die Speiseröhre der Künstlerin. Im Gegensatz zur abendländischen Trennung von Körper und Geist verweist Mona Hatoum auf die Trennung von bekanntem und unbekanntem Körper. Sie ist nicht auf der Suche nach einem metaphysischen Inneren. Sie betreibt keine anatomische Suche nach dem Sitz der Seele, sondern begibt sich hinein in das von Sekreten überzogene, fleischliche Innere. Der medizinische Blick wandelt sich in einen ästhetischen Blick, und das Unbehagen, das Erschrecken, der Ekel, die diese Bilder provozieren mögen, verweisen auf die Fremdheit, mit der unser eigenes Körperinneres in der Selbsterfahrung wahrgenommen bzw. wegen seiner Tabuisierung nicht wahrgenommen werden darf. Die Projektion auf den Esstisch hebt ein weiteres Motiv pointiert hervor, das der „vagina dentata“, der bezahnten Vagina, das die Ur-Angst vor dem alles verschlingenden, kastrierenden Schlund hervorruft.
Mona Hatoum wurde 1952 in Beirut geboren. Dort lebten ihre Eltern palästinensischer Abstammung und englischer Staatsangehörigkeit seit 1948 im Exil, nachdem sie Haifa verlassen mussten. 1975 reiste die Künstlerin erstmals nach London. Weil der Bürgerkrieg im Libanon ausbrach, wurde aus dem geplanten kürzeren Aufenthalt eine Fortsetzung ihres in Beirut begonnenen Kunststudium, und es erfolgte die Integration in die englische Kunstszene, die nicht zuletzt 1995 mit einer Nominierung für den Turner Prize ihren Ausdruck fand.
Thematisierungen des Exils, der Folter, der Intifada, die eine Reihe früherer Arbeiten bestimmten, werden auch deutlich in dem Objekt „No Way“, das sie anlässlich einer Ausstellung in der Galerie Anadiel in der Altstadt von Jerusalem 1996 realisierte. Aus Trauer über die israelische Abriegelungspolitik und Ausgangsregelung gegenüber den Arabern verschloss sie die Öffnungen eines gefundenen Schöpflöffels mit Schrauben und Muttern, so dass der normale Haushaltsgegenstand funktionslos wurde, aber auch die Bedrohlichkeit einer Waffe annahm. Eine Variante dieser Arbeit ist das Küchensieb „No Way II“, bei dem ebenfalls die Löcher verschlossen sind.
Aus dem gleichen Jahr stammen auch die zarten Abreibungen von Haushaltsgegenständen auf Wachspapiere, die während eines Aufenthalts in der einzigen noch funktionierenden Shaker-Gemeinde in Sabbathday Lake im amerikanischen Bundesstaat Maine entstanden.
„Dort gab es ein schönes Gefühl von Beständigkeit und herzlicher Häuslichkeit, was in völligem Gegensatz zu meiner nomadischen Existenz steht. Die Arbeit, die ich dort ausführte, entwickelte sich sehr organisch und führte dazu, Küchengegenständen und einer Art nostalgischen Häuslichkeit eine Referenz zu erweisen. Diese Situation erlaubte es mir, mit einfachen Handwerksmitteln zu arbeiten, vielleicht sogar mit einer sanfteren Seite von mir selbst wieder Kontakt aufzunehmen. Ich zog es vor, mit meinen Händen zu arbeiten, anstatt beständig eine Arbeit zu konzeptualisieren, bevor sie gemacht wird.“(1)
In Mona Hatoums Arbeit der letzten Jahre gewinnt eine klare, ästhetische Präzision, eine formale Schönheit und eine Betonung der Materialität die Oberhand. Häufig schwingt eine bedrohliche Gefährlichkeit mit, etwa wenn bei einer Arbeit wie „Home“ von 1999 durch eine Reihe metallener Haushaltsgegenstände Strom geleitet wird, angeschlossene Glühbirnen in zufälligem Wechsel aufleuchten und der Sound der knisternden elektrischen Energie hinzukommt. Eine Arbeit, die sich schon in einem von der Decke hängenden Objekt von 1979 andeutete, bei der Strom unter anderem durch eine Schere und ein Sieb geleitet wurde. Dass sich gerade die Themen der Fragilität, der permanenten Bedrohung der Schönheit, der Unsicherheit der Existenz, der Verletzlichkeit, der ständig gefährdeten Balance der Dinge zum Kernpunkt der Arbeiten Mona Hatoums entwickelten, stellt für mich eine Wiedergewinnung fast tabuisierter Themen dar. Von den frühen Performances, die das Publikum direkt konfrontieren wollten – etwa wenn bei „Don’t Smile, You’re on Camera“ von 1980 die Aufnahmen einzelner Personen aus dem Publikum mit Aufnahmen nackter Körper unterlegt wurden, oder wenn für „Look No Body!“ eine Live-Kamera auf der Toilette das Urinieren übertragen sollte –, bis zu den aktuellen Arbeiten lässt sich die Wiedergewinnung und Neubewertung dieser oft als klassisch weiblich deklassierten Themen-Bereiche ausmachen. Darin ist die Arbeit postfeministisch. Mona Hatoum hat eine künstlerische Sensibilität entwickelt, die hellwach und aufmerksam Brennpunkte unserer existentiellen Situation registriert und die beim Betrachter Empfindungen von Fragilität, Verletzlichkeit und Zerstörbarkeit hervorruft. Eine solche Sensibilität sollte, nach ihrer geschlechtsspezifischen Dekonstruktion, wieder allgemein von jedem menschlichen Wesen eingefordert werden können.

1 Mona Hatoum interviewed by Janine Antoni, New York, Spring 1998, in Ausst.-Kat.: „Mona Hatoum, Domestic Disturbance“, MASS Moca, North Adams, Massachusetts; SITE Santa Fe, Santa Fe, New Mexico, 2001, S. 32 (Übersetzung: der Autor).


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