Author:   Kevin Wells  
Posted: 15.11.2002; 16:52:57
Topic: ARCHIV - WOHLTAT DER KUNST
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DIE WOHLTAT DER KUNST << zurückweiter >>


Tracey Emin, »Just love me«, 1998, Neonröhren,
Elektrik, Acryl 38 x 114,4 x 6,5 cm

Tracey Emin

In Zeichnungen, Objekten, Installationen, Büchern und Filmen verarbeitet Tracey Emin, ohne Scham intime Details ihres Lebens. Die einzigartige Offenheit und Freizügigkeit, mit der sie ihre teils tragische Lebensgeschichte in Arbeiten wie „Everyone I have ever slept with“ (1963–1995), ausbreitete, trug ihr den Ruf des exhibitionistischen „bad girl“ unter den „Young British Artists“ ein. Dabei geht es der Künstlerin nicht darum, die Sensationslust der Betrachter
zu bedienen, sondern vielmehr darum, ihre Erfahrungen mitzuteilen und zu teilen, den Betrachter zu berühren und aufzurütteln. Spuren, Gefühle und Erinnerungen an ihre Freunde, frühe Vergewaltigungen, Abtreibungen, glückliche und unglückliche Lieben formieren sich in ihrem Werk zu einer persönlichen Legende. In einem Gespräch mit sich selbst (Bestandteil der Installation „The Interview“, 1999) lässt sich die Künstlerin von ihrem Alter Ego angesichts dieser Art obsessiver Selbstdarstellung provozieren.

Tracey Emin, “The Interview”, 1999 (Anfang)

Was ich wirklich nicht begreife ist, dass du dich als radikale Verfechterin der Wahrheit gebärdest, während ich manchmal denke, dass deine ganze Existenz eine einzige Lüge ist.

Verfluchte Scheiße, was soll das denn heißen?

Also zum Beispiel: Wie stehst du zur Untreue, wie beurteilst du Leute, die untreu sind, und so weiter?

Ich beurteile Untreue nicht, ich habe Untreue noch nie beurteilt. Ich beurteile mein eigenes ..., also, du weißt schon: Verhalte dich den anderen gegenüber so, wie du willst, dass die anderen sich dir gegenüber verhalten. Ich beurteile Untreue nur dann, wenn jemand mir untreu war und das Ganze irgendwelche unmittelbaren Folgen hatte. Und es ist etwas, womit ich schlecht klarkomme. Ich glaube, dass das ganz menschlich ist und dass diejenigen, die das nicht schwierig finden, die eigentlichen Lügner sind, und nicht jemand wie ich. ... Ich meine, ich sage nicht, dass die ganze Welt ein glücklicher Ort sein muss. So ist die Welt nun mal einfach nicht. Aber ich weiß, wie ich leben möchte und wie ich mich selbst beurteile. Wenn es dir schwer fällt, das zu begreifen, dann ist das verdammt noch mal dein Problem und nicht meins.

Kannst du irgendetwas sagen, ohne dabei zu fluchen?

Ha, nein, das kann ich nicht, nein ..., nicht, wenn ich mich ärgere. ... Nein. Wenn mich jemand richtig wütend macht, dann fluche ich. Weil ich deutlich machen will, worum es mir geht.

Also okay. Warum regst du dich so auf?

Ich rege mich nicht auf. Und die Tatsache, dass ich mich hinterfrage ..., dass es mir gefällt. ... Vielleicht will ich es mir ja absichtlich schwer machen. Es bedeutet, dass ich nicht zufrieden bin mit mir. Es bedeutet, dass ich an mir arbeite. Es bedeutet, dass ich mich verbessern will. Es bedeutet nicht, dass ich mich selbst nicht schätze, sondern es bedeutet nur, dass ich nicht glaube, dass ich gut genug bin. ... Ich denke, wenn andere Leute sich mehr hinterfragen würden, würde das zur Klärung einiger Dinge beitragen.

Reden wir über deinen Jähzorn, deine Eifersucht und deine Gewalt.

Hör mal, ich bin nicht so gewalttätig. Die paar Male, wo ich gewalttätig war, lassen sich ..., nein, sie lassen sich nicht an einer Hand abzählen. Aber ich weiß genau, wann ich gewalttätig war. Und ich weiß, in mir steckt eine unglaubliche Aggression. Und das liegt daran, dass ich in meinem Leben häufig geschlagen wurde. Ich bin missbraucht, ich bin sexuell missbraucht, ich bin wie Scheiße behandelt, ich bin betrogen, ich bin belogen worden. Und die Tatsache, dass ich jetzt in einem Alter bin, also, das ... wird mir nicht mehr passieren. Ich werde das in meinem Leben nicht mehr dulden. Dafür ist einfach kein Platz. Genauso wenig wie es da Platz für Schwäche gibt.

Begreifst du nicht, dass du die Leute, die dich lieben, die Leute, mit denen du zusammen bist, immer erpresst. Ich meine, du stellst Forderungen, du sagst „Warum liebt man mich nicht?“, „Warum lieben die Leute mich nicht?“, und dann verhältst du dich so.

Ja, da ist etwas dran, an dem, was du da sagst. Aber es ist mein Kopf, und es ist mein Körper. Und ..., wie ich mich behandle, ist eine Sache. Trotzdem, ich bin nicht deiner Meinung, überhaupt nicht.

Letzten Sommer, als du drei Tage lang nichts gegessen hast, du bist dann aufgestanden, hast fast nichts mehr gewogen, bist zu einer Party gegangen, hast die ganze Nacht durchgesoffen und einen kompletten Narren aus dir gemacht.

Erinner’ mich nicht an letzten Sommer. Letzten Sommer. ... Ich, ich neige dazu zu denken, dass ich geisteskrank bin. Und unfähig, mich wirklich um mich selbst zu kümmern. Und ich glaube nicht, dass das bedeutet, unverantwortlich zu sein. Ich glaube, es gab genügend Hinweise, die den Leuten hätten zeigen können, dass ich nicht in der Lage war, mich um mich selbst zu kümmern. Und letztendlich hat man sich doch um mich gekümmert, und es ging mir wieder besser.

Ich versteh’ das einfach nicht.

Wie dem auch sei, erinner’ mich nicht an letzten Sommer. Erinner’ mich einfach nicht daran. Ich möchte einfach nicht dran denken.

Arme Tracey, arme, arme Tracey.

Ich glaube nicht, dass ich pathetisch bin. Ich denke, ich bin einfach nur aufrichtig. Nenn’ mir einen Menschen in dieser gottverdammten Welt, der nicht mal in einem Augenblick absoluter Verzweiflung und Einsamkeit da lag, der seine eigene Beerdigung träumte und davon, wie die Gesichter der Leute auf ihn runterschauen.

Das ist wieder genau das, was ich vorhin gemeint habe, diese Erpresserei. Einfach die Tatsache, dass du es nie machst, denn wenn du es wirklich machen wolltest, dann hättest du es schon längst getan. Das ist einfach nur eine andere Art ..., es selbst zu tun, du spielst einfach nur Theater. Du besäufst dich, flennst, hängst rum und denkst daran, dich von einer Brücke zu stürzen. Du bist einfach ein Romantiker. Und die ganze Sache ist einfach total unverantwortlich.

Gott sei Dank. Ich meine, verfluchte Scheiße, wer will denn genauso sein wie alle anderen. Ich möchte individuell sein. Und es ist verdammt schwierig, in dieser Welt deine beschissene Individualität zu finden.

[...]

Übersetzung: Nikolaus G. Schneider

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