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inactiveTopic ARCHIV - PROPHETS OF BOOM - KÜNSTLER05 topic started 25.06.2002; 15:22:35
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user Kevin Wells - ARCHIV - PROPHETS OF BOOM - KÜNSTLER05  blueArrow
25.06.2002; 15:22:35 (reads: 4976, responses: 0)
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ALBERT OEHLEN, Selbstbildnis mit verschissener
Unterhose und blauer Mauritius, 1984,
Öl auf Leinwand, 240 x 260 cm

Albert Oehlen

Farbenlehre I
Das Ende bringt die Wende

Am Anfang war das Ende. Die Malerei begann mit der Darstellung von Nahrungsmitteln und höheren Wesen, was in dem Moment dasselbe ist, wo Nahrungsmittel über Leben und Tod entscheiden. Es handelt sich hier um
die Darstellung des oder der Verantwortlichen. Diese (Darstellung) ist der Malerei eigentümlicher als die Farbe selbst. Die Frage, ob man die Verantwortlichen gnädig stimmen oder unterwerfen will, ist überflüssig, da auch das dasselbe ist.
Dennoch bestehen Bilder zu einem guten Teil aus Farbe. Ich müßte schizophren sein, ein völliger Idiot, der weder seine Kameraden noch das Leben selbst achtet, die Ausgeburt der Hölle, würde ich dies leugnen. Bilder setzen sich aus zwei Teilen zusammen: Verrat und Pflichterfüllung. Mein Freund Johannes Gross erzählte mir
folgendes: In seinem Buch »The Sacred Executioner« vertritt Hyam Maccoby die These, daß der Barabbas der Passionsgeschichte als zweiter Gefangener nur erfunden worden sei, um die Tatsache zu verbergen, daß die jüdische Menge nach der Freilassung Jesu geschrien habe. Barabbas heiße im Aramäischen, der damaligen Umgangssprache, »Sohn des Vaters«. Ob diese Behauptung stimmt oder nicht, läuft vollkommen auf dasselbe hinaus, da die Geschichte bereits von den Siegern geschrieben wurde.
Es ist unsere Lieblingsgeschichte von Verrat und Pflichterfüllung. Genau besehen handelt sie von einem inszenierten Verrat am Allerhöchsten, nämlich Gottes Sohn, so daß man in den Beteiligten Pflichterfüllende sehen muß, die Gott halfen, für einen Teil unseres Elends die Verantwortung zu übernehmen, so daß wir nicht mehr automatisch in die Hölle müssen.
Die Mitglieder des Hohen Rates, der Jesus zum Tode verurteilte: Hannas, Kajaphas, und Herodes, um nur einige zu nennen (malen), sind die einzigen, die zu Recht behaupten dürfen, wenn sie es nicht getan hätten, hätte es jemand anderes getan. Ein kluger Mann (ich) hat einmal gesagt, Gott sei nur in Negativismen zu beschreiben: Unbeschreiblich, unfehlbar, unsichtbar, unbezahlbar, unglaublich usw. Das muß Jesus von Nazareth gewußt haben, hat er doch seinem eher ziellos wirkendem Heilen, Wandern und Predigen erst durch seinen unheimlich starken Abgang den nötigen Pfiff gegeben und uns die versprochene Wende gebracht.
Der fleischgewordene Geist muß liquidiert werden, um der Kunst ihren Gegenstand wiederzugeben. Es fällt auf, daß in den Jahren 0–33 kein einziges vernünftiges Bild gemalt wurde. Das ist die Wahrheit. In dem Buch »Arbeit ist Wahrheit« steht geschrieben: »Guck nicht zurück im Zorn, das Bild ist nicht hinten, das Bild ist vorn. Sei nicht kleinlich mit der Wahrheit, sonst kommt sie Dir großzügig. Wir hassen die Wahrheit, weil sie einer der dreckigsten Vögel auf der Welt ist. In Hamburg, wo wir wohnen, sieht man nichts als Wahrheitsscheiße, und es ist überhaupt sehr dreckig. Eines Tages, als wir in der 5. Klasse waren (HBK), flog ein Vogel (Wahrheit) über uns weg, und gleich darauf war unser Hemd voll Wahrheitsdreck. In Hamburg fliegt dauernd Wahrheit um einen herum, und sie ärgert einen, weil sie so niedrig fliegt und überall etwas fallen läßt. Wenn es nach uns ginge, würden wir so lange auf der gottverdammten Wahrheit herumtrampeln (= malen), bis sie uns nicht mehr vollscheißt.« Soviel zur Pflichterfüllung.
Die Farbe ist der Verräter. Sie will uns glauben machen, wir könnten etwas sehen. Sie ist der fleischgewordene Müll, der durch die Augen in Museum und Wohnung zu treten trachtet. In dem Moment, wo mir dies klar wird, ist die verlogenste naturgemäß meine Lieblingsfarbe (das einzige Gegenmittel). Salvador Dalì meint dasselbe, wenn er sagt: «Ich mag es nicht, wenn irgend etwas zur Nase hineingeht und beim Anus herauskommt, aber ich liebe das, was in den Anus schlüpft und dann aus dem Auge tritt.« Zwei Beispiele: Wenn Schwarz sich bei der additiven Farbmischung und Weiß bei der subtraktiven aus den drei Grundfarben zusammensetzen, was ist dann Grau? Bei der additiven Farbmischung, der man sich beim Malen bedient, setzt sich Grau demnach aus einer sichtbaren und einer unsichtbaren Farbe zusammen. Orange ist als optisches Signal den Rottönen zuzuordnen, vermischt man es aber mit Schwarz, das eigentlich neutral sein sollte, so erreicht man einen unwahrscheinlich schönen Grünton, der sich auf der Farbskala zu Rot verhält wie Deutschland zu Neuseeland auf dem Globus. Nun könnte der vorlaute Leser/Betrachter fragen, warum diese Behauptungen sich auf den hier zu besprechenden Bildern zu meiner Farbenlehre nicht bestätigen. Diese Bilder sind in Dispersionsfarbe gemalt, okay?, während meine Beobachtungen, das Orange betreffend, sich auf Öl bzw. Lackfarben, was dasselbe ist, beziehen.
Hieraus lernen wir, der Farbe nicht zu trauen, nur zu glauben, was auf der Tube steht und ihr (der Farbe) den Platz zuzuweisen, der ihr gebührt: auf der Leinwand.

Albert Oehlen


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