Author:   Kevin Wells  
Posted: 25.06.2002; 15:16:01
Topic: ARCHIV - PROPHETS OF BOOM - KÜNSTLER01
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PROPHETS OF BOOM << zurückweiter >>

Edgar Arceneaux

Alle Geheimnisse,
das nicht mehr auffindbare Jahr


Die Heisenbergsche Unschärferelation besagt, daß der Akt des Messens oder Beobachtens eines Systems in gewisser Hinsicht das System selbst verändert. Je näher die Anschauung, desto ungenauer werden das System und schließlich die Ergebnisse. Die Schiefertafel, auf der die Forschung beginnt, ist nicht unbeschrieben. Sie weist Spuren auf, ein Erinnerungsmuster, dessen Funktion das Verschleiern von Erfahrung ist. Die folgende Geschichte, die noch nicht zu Ende ist, beginnt mit einem Menschenraub.
Als ich zuletzt die 1466 East 54th Street in Watts aufsuchte, war ein leeres Stück Land, ein mit Gras bewachsenes Feld umgeben von Arbeiterhäusern der einzig sichtbare Ort der Erinnerung an die traumatischen Ereignisse des 17. Mai 1974. Ich suchte in Ecken, unter Steinen, Büschen und Trümmern, aber was konnte meine Ausgrabung enthüllen? Ich forschte auf dem Boden nach Überbleibseln oder Spuren und fand nichts. An jenem Abend des 17. Mai lieferten sich die Symbionese Liberation Army (SLA) und das Los Angeles Police Department (LAPD) eine der größten und legendärsten Schießereien in der Geschichte Amerikas. Die physischen Spuren wurden vom Ort des Geschehens beseitigt, aber die Ereignisse leben bis heute fort. Diese Geschichte, die Patty-Hearst-Story, ist eine reflexive Reise in die Unwägbarkeiten historischer Dokumente, persönlicher und kollektiver Erinnerung, von Aufzeichnungen und empirischen Beweisen. Wie kann man etwas betrachten, das die Wahrnehmung selbst in Frage zu stellen scheint? Es gibt keine endgültige Version dieser Geschichte. Bis heute ist dies eine der Variationen, die überlebt hat.
Am 4. Februar 1974 entführte eine revolutionäre politische Gruppe, die sich Symbionese Liberation Army (SLA) nannte, die Verlagserbin Patricia (Patty) Hearst, Enkelin des legendären Zeitungsverlegers William Randolph Hearst, aus ihrem Appartement in Berkeley. Die neun-köpfige Gruppe wählte den Namen »Symbionese«, ab-geleitet von dem Begriff »Symbiose«, mit dem man das harmonische Zusammenleben unterschiedlicher Organismen bezeichnet. Das Symbol der SLA, die siebenköpfige Kobra, stellte die sieben Prinzipien von Gott und Leben dar. Ihrem Bericht nach wurde Patty zwei Monate lang mit verbundenen Augen in einem kleinen Raum im Hauptquartier der Gruppe gefangen gehalten. Sie durfte nicht einmal das Bad ohne Aufsicht benutzen. Bald wurde klar, daß dies keine normale Entführung war. Nach der zweimonatigen Gefangenschaft wurde sie vor die Wahl gestellt, »sich entweder der Gruppe anzuschließen oder exekutiert zu werden« (P. Hearst). Am 15. April 1974 wurden fünf Mitglieder der SLA, einschließlich Patty selbst unter ihrem neuen Namen »Tania« (nach einer Gefährtin Chè Guevaras benannt), von der Überwachungskamera aufgezeichnet, wie sie die Hibernia Bank im Sunset District von San Francisco überfielen. »Dies ist ein Überfall! Runter auf den Boden! Auf die Gesichter, ihr Scheißkerle!« In weniger als vier Minuten verwundeten sie zwei Unbeteiligte und entkamen mit über 10.000 Dollar.
Als herauskam, daß Hearst beim Hibernia-Bankraub Komplizin der SLA war, verbreitete sich diese Nachricht wie ein Lauffeuer über die ganze Nation. Viele Amerikaner konnten nicht verstehen, wie eine gebildete, privilegierte junge weiße Frau sich so dramatisch verändern konnte. Sympathie und Sorge um ihre Sicherheit verwandelten sich schnell in Wut und Empörung. Dies war eine scharfe Reaktion auf die unfaßbaren Ereignisse, die sich vor dem amerikanischen Bewußtsein entfalteten. Die Frage, die sich fast alle mit Blick auf die Zeit Hearsts bei der SLA stellten, war immer wieder, ob ihre Teilnahme erzwungen wurde oder ob dies vollkommen freiwillig geschah. Der Generalstaatsanwalt jedenfalls stellte unverzüglich einen Haftbefehl für Tanias Ergreifung aus, der auf »handfesten Beweisen« beruhte.
Am 17. Mai 1974 fand die zweistündige Schießerei zwischen der SLA und dem LAPD in deren Versteck in der 1466 East 54th Street in Watts statt. Das Drama, das ausgiebig im Fernsehen gezeigt wurde, zeigte fast 500 Polizisten, die um das Haus aufgestellt waren. Ungefähr neuntausend Schüsse wurden abgefeuert. Schließlich ging das Haus in Flammen auf, als sich Tränengas entzündete. Drei SLA-Mitglieder wurden erschossen, als sie zu entkommen versuchten, zwei erlagen Kohlenmonoxid-Vergiftungen, einer schoß sich in den Kopf. Man hatte angenommen, daß sich auch Hearst in dem Haus aufhielt. Sie versteckte sich aber in einem Motel in Anaheim gegenüber Disneyland und verfolgte die Entwicklung der Ereignisse im Fernsehen. Nach der Schießerei verschwand Hearst über ein Jahr lang aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit. Im September 1975, eineinhalb Jahre nach ihrer Entführung, wurde Patty Hearst mit zwei anderen SLA-Mitgliedern in einem Appartement in San Francisco gefunden und vom FBI festgenommen. Am 4. Februar 1976, auf den Tag genau zwei Jahre nach ihrer Entführung, wurde sie wegen Bankraubs angeklagt und vor Gericht gestellt. Da sie kaum mehr öffentliche Sympathie hatte und die Verteidigung des Rechtsanwalts F. Lee Bailey eher schwach war, wurde sie schuldig gesprochen und zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt.




Die größte Frage im Zusammenhang mit Patricias Zeit bei der SLA war immer wieder, ob ihre Teilnahme erzwungen oder vollkommen freiwillig war. Die Wahrheit ist bis heute umstritten. Einigen schien der einzig begreifliche Grund Gehirnwäsche. Es wäre aber eine Illusion und es würde nur immer mehr Rätsel aufgeben, wollte man die Gründe für diese Ereignisse zu klären versuchen. Kausales und rationales Denken sind in ihren Möglichkeiten, politisches Verhalten verstehbar zu machen, selbst eingeschränkt, da sie auf ihre eigene Rhetorik begrenzt sind. Kausalität basiert auf der Redundanz bestimmter Muster und Sequenzen, die Formen des Verstehens schaffen. Es gibt zwei Möglichkeiten, diese Muster zu erklären, durch Strukturen und Serien. Serien = A gleicht B, B gleicht C usw. Struktur = Gabel verhält sich zu Teller wie Stift zu Papier. Hearsts Treue zur SLA entzog einem kausalen Denken die Grundlage und verleitete die meisten zu der Schlußfolgerung, daß nur Zwang und Aggression eine dramatische politische Veränderung im Bewußtsein verursachen können. Muster sind weder fixiert noch statisch, sie wechseln ständig und entstehen immer neu. Das Trauma der Ereignisse ergab eine derartige Aufregung, daß sich bestimmte Muster des Denkens und der Erinnerung neu organisierten oder in Wahnsinn auflösten. »Die kontinuierliche Desorientierung und die Vermischung der Erinnerung mit Einbildungen und Wünschen macht von Erinnerung überlagerte Gerüchte so wirkungsvoll, daß sie uns daran hindern, sie zu hinterfragen« (Norman Klein). Unglücklicherweise war die Basis dieser Reorganisation von Erinnerung für die meisten einschließlich Patty Hearst das Ausradieren und die Verleugnung der komplexen Verflechtungen dieser Ereignisse.

Das fehlende Jahr
Das Unbekannte/Unbenannte ist nie abwesend, sondern immer präsent. Kristeva beschreibt Erinnerung als einen Lichtblitz, der den Ablauf der Zeit zu einem Moment kondensiert. »Wenn der Blitz vorbei ist, ist trotzdem vieles, was davon als pittoreske Geschichte übrig bleibt, in sich selbst eine Form der Auslöschung.« Nach der großen Schießerei in Watts reisten Hearst und die übrig gebliebene SLA in einem Untergrund-Netzwerk kreuz und quer durch das Land. Sie fanden dabei jeweils Unterschlupf in Verstecken von Sympathisanten. Es wurde viel darüber spekuliert, was genau in diesem Jahr geschehen ist. Man fand es aber nie heraus. In dem Jahr auf der Flucht hatte sie keinen Kontakt zu ihrer Familie. Auch in dem Buch, das sie über ihre Erfahrungen schrieb (Titel: »Alle Geheimnisse/Every Secret Thing«, später »Patty Hearst: Ihre eigene Geschichte/Her Own Story«), geht sie nicht auf das Thema ein. Das Ausmaß der Ungewißheit bot Raum für Vermutungen über Hearsts wirkliche Beziehung zur SLA während, nach und vor ihrer Entführung. Dieses fehlende Jahr wird zum kritischen Verbindungsstück. Über das Ausmaß ihrer Verwicklung blieben Gerüchte bestehen. Das Imago, ein Begriff aus der Psychologie, bezeichnet eine idealisierte, aus der Kindheit übrig gebliebene Erinnerung. Imagos werden wie in einem geistigen Medaillon gerahmt aufbewahrt… wenn wir uns darauf konzentrieren, scheint das Imago unbeschädigt zu überdauern: Ein Foto, ein Dokument, eine Statistik, ein Interview. »Es bleibt da, wo wir es hingelegt haben, aber die Einzelheiten drumherum gehen verloren, als wären sie verwunschen, irgendwie kontaminiert, aber leer.« (Norman Klein) Wie betrachtet man etwas, das Wahrnehmung selbst in Frage zu stellen scheint? Als politischen Kontext: eher als eine syntagmatische Beziehung, die interpretativ, mehrdeutig und auf den Moment bezogen ist, denn als eine paradigmatische Beziehung, die kodifizierter, theoretisch fundierter und objektiver ist. Der Versuch, die verlorenen Einzelheiten zu sammeln und durch faktisches Material wieder zusammenzusetzen, zeigt die Unzulänglichkeit der Vorgehensweise selbst. Die Heisenbergsche Unschärferelation stellt fest, daß der Akt des Messens oder Beobachtens eines Systems in gewisser Hinsicht das System selbst verändert. Je näher die Anschauung desto ungenauer werden das System und schließlich die Ergebnisse. In meiner Zeichnung »flight (The Patty Hearst Story)« stellen lose verbundene schwebende Gebäude und Häuser weniger ästhetische Zeichen dar, sie stehen vielmehr für eine Architektur kritischer Anschauung. Ausgrabungen bringen nicht Wahrheit hervor und die Innereien enthüllen nichts. Das neue Zusammenfügen von Strukturen, nicht aber »Geschichte« (ein problematisches Wort im Hinblick darauf, daß sie bereits fiktiv ist) kann kritische Anschauung hervorbringen. Der Versuch, Faktisches zu sammeln und wieder zusammenzusetzen, scheint nur weitere Fragen hervorzubringen. So geht es in diesem Prozeß nicht um Graben oder Ausfüllen, sondern um den Widerspruch zwischen Auseinandernehmen und wieder Zusammensetzen. Erneut arrangieren, erneut ordnen, erneut schreiben: das schafft keine Wiederholung – es verändert.

Edgar Arceneaux

Kosmologie der Quellen: Norman Klein, Kristeva, Foucault, Deleuze und Guattari, Mark C. Taylor, Roland Barthes, www.pattyhearst.com und www.crimelibrary.com.





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