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inactiveTopic ARCHIV - DAS TIER IN MIR - KÜNSTLER 06 topic started 10.04.2002; 11:28:47
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user Kevin Wells - ARCHIV - DAS TIER IN MIR - KÜNSTLER 06  blueArrow
10.04.2002; 11:28:47 (reads: 2038, responses: 0)
DAS TIER IN MIR << zurückweiter >>

KIRSTEN GEISLER

Kirsten Geisler (geboren 1949 in Berlin) befaßt sich seit den frühen neunziger Jahren in ihren Videos, Installationen und computeranimierten Bildern mit Verfügungsfantasien des Menschen über Maschinen und Tiere. Einem größeren Publikum wurde sie Mitte der neunziger Jahre durch ihre Darstellung eines überlebensgroßen, Schönheitsstandards perfekt umsetzenden Frauengesichts bekannt, das sie in verschiedenen, auch interaktiv »reaktionsfähigen« Varianten ausführte. Der Werkgruppe der »Beauty« folgte Ende der neunziger Jahre die »Fliege«, ebenfalls auf unterschiedlich untersuchende Weise umgesetzt.
Die in Holland tätige Künstlerin operiert auf der ästhetischen Grenze von real und fiktiv: Sie spielt maximale technische Perfektion gegen das schleichende Glaubwürdigkeitsdefizit solcher Perfektion aus. Je glamouröser uns die überlebensgroße »Beauty«, interaktiv gereizt, zuzwinkert, je naturgetreuer die virtuelle Fliege ihre vielgliedrigen Beine bewegt, desto irrealer, desto jenseitiger erscheinen sie. Beide, das schöne Frauengesicht und die Fliege, Mensch und Natur, sind digitale Kreaturen der Künstlerin, womit sie, durchaus ironisch gebrochen, den Schöpfergottmythos als Künstlerselbstverständnis reaktiviert. So glatt und technoid sich die Videoarbeiten und interaktiven Bildschirme Geislers präsentieren, so tief sind sie in die alte theologische Hierarchiedebatte um Tier, Mensch und Gott und, in der rationalisierten Erbschaft dieser Debatte, um die Maschine und den Menschen als ihren Schöpfergott verstrickt. In Geislers Arbeiten scheint die digitale Rechenmaschine dem menschlichen Willen Verfügungsmacht über so etwas Flüchtiges wie physiognomische Schönheit oder – wörtlich flüchtig – stets davonfliegende Insekten zu geben.
Am Rande, fast abgründig beiläufig, wird dadurch die Dressur des Publikums durch sogenannte interaktive Medien thematisiert. Je nachdem, wo die Besucher den Bildschirm berühren, »reagiert« die virtuelle Fliege mit einer Bewegung. Die kausale Schlaufe zwischen Bildschirmberührung und dadurch ausgelöster, vorprogrammierter Bildschirmreaktion ist eng und vorhersagbar, allerdings suggeriert sie den Übertritt aus dem Realen ins Fiktive, einen kategorialen Realitätensprung. Insgeheim ist diese Überschreitung eine elektronische Nachinszenierung metaphysischen Einwirkens auf konkret-banales Alltagsleben, Gottes Fingerzeig in den Wirrnissen von Natur und Kultur, vom interaktiv gebannten Besucher immer wieder nachgespielt mit Daumen oder Zeigefinger auf dem Touch Screen. Fliegen sind da eigensinniger. MW



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