Author:   Kevin Wells  
Posted: 20.01.2002; 13:12:14
Topic: AUSSTELLUNGEN - KÜNSTLER 35
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BIG NOTHING << zurückweiter >>
Germaine Richier

geboren 1902 in Grans bei Arles, gestorben 1959 in Montpellier

»Ich glaube, alles muß einmal ein Ende haben. Die Dinge verblassen, werden schal, wenn sie zu lange dauern.« Ihre Skulpturen betrachtet Germain Richier als lebendige, vergängliche Wesen. Das Werk der Bourdelle-Schülerin ist immer auch ein Spiel mit dem Tod, das Thema des existentiellen Grunddramas ist präsent. Ihre erstaunliche Idee, daß Skulptur etwas Lebendiges ist und dadurch ebenso der Vergänglichkeit, dem Tod anheimfällt, meint weniger deren materielle Substanz – denn Richier fertigte ihre Objekte nicht aus organischem Material, sondern goß ihre Plastiken zumeist in Bronze, einem Werk-stoff, der dem klassischen Anspruch von Dauerhaftigkeit entspricht. Vielmehr sterben sie als Bilder, denn in dem Augenblick in dem sie entstanden sind, beginnen sie bereits zu verblassen und verlieren ihre überraschende Präsenz.
Als sich die Künstlerin in den 40er Jahren vom Formenkanon der traditionellen Plastik löst, entwickelt sie ihre vegetabilen Figuren. Unweigerlich bildet der in den politischen und sozialen Desastern des 20. Jahrhunderts ausgelöste Verlust des Glaubens an die Menschheit, als im klassischen Sinne humanen Wesen, den Hinter-grund vor dem ihre Skulpturen entstehen. Der existentielle Nihilismus der französischen Philosophie, der ihre Zeit prägt, löscht zudem jeden Begriff einer sinnstiftenden Instanz außerhalb der individuellen menschlichen Existenz.
Richiers Werk vergegenwärtigt das existentielle Grunddrama in naturhaften Formen. Ihre skulpturalen Mischwesen sind ebenso ein surrealistisches Motiv wie psychologisierendes menschliches Portrait. In ihrer Fragilität wirken ihre Skulpturen zugleich bedrohlich. Eines ihrer zentralen Werke, »Mante religieuse«, die Gottesanbete-rin, spricht über diesen Konflikt. In dem Werk, das in mehreren Versionen existiert, stößt der Betrachter auf ein seelenloses Gegenüber, auf ein entleibtes Mischwesen. In der surrealistischen Verwandlungsstrategie wird die insektenhafte Figur als seelenloses Objekt zum Gegenbild des Betrachters und so zu seinem naturhaften Alter ego. Richier faszinerte vor allem die lauernde Haltung der Gottesanbeterin, die der Skulptur den Ausdruck einer potentiellen Bewegung verleiht. Ihren Namen verdankt sie ihrer aufrechten, scheinbar betenden Haltung. Dementgegen pflegt sie eine bedrohliche Praxis: Nach dem »Liebesakt« tötet die Gottesanbeterin bei Nahrungs-mangel ihr Männchen und frißt es, ein scheinbar egozentrischer Erhaltungstrieb.