Author:   Kevin Wells  
Posted: 20.01.2002; 13:10:01
Topic: AUSSTELLUNGEN - KÜNSTLER 32
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BIG NOTHING << zurückweiter >>
Michelangelo Pistoletto

geboren 1933 in Biella bei Turin, lebt und arbeitet ebendort

»Stück für Stück, wie sich die Spiegel zusammenfügen, vergrößert sich die Zahl der Bilder im Inneren der Konstruktion. In dem Augenblick, wo der letzte Spiegel angelegt wird, wird das verspiegelte Innere zu einem Kubus, in dem alle sichtbaren Bilder verschwinden« (Pistoletto, 1966). Sechs nach innen gewandte Spiegel fügen sich zum »Metrocubo d’Infinito«. Während das Äußere, die grauen Spiegelrücken, an Banalität kaum zu übertreffen sind, fasziniert die Vorstellung unzähliger Reflexionen im Inneren. Durch die unendliche Wiederholung des Spiegelvorgangs dehnt sich – paradoxerweise in den Grenzen eines Kubikmeters – eine imaginäre räumliche Unendlichkeit aus. Im Gegensatz zu den über die Würfelkanten hinausragenden Randstreifen reflektieren die verdeckten Flächen der Spiegel nur die jeweils gegenüberliegenden Spiegel und damit nichts anderes als: nichts. Diese Totalität des Verschwindens ist für den Betrachter aber nicht sinnlich zu erleben. Wie ein schwarzes Loch hat der Kubus »alle sichtbaren Bilder« in sich aufgesaugt und vernichtet. Er ist eine Metapher für die Immaterialität und Unbegreiflichkeit des Unendlichen und verweist zugleich auf eine hinter dem Werk liegende, höhere Wahrheit.
Michelangelo Pistolettos »Kubikmeter Unendlichkeit« gehört einer Werkgruppe an, deren Bezeichnung als »Oggetti in meno« die Minimal Art reflektiert. Die »Minusobjekte« teilen deren formale Reduktion und den Anti-Illusionismus, nicht aber deren Eindimensionalität und strenge Selbstbezüg-lichkeit. Pistolettos Spiegel beziehen sich auf den Narziß-Mythos und auf Duchamps »Großes Glas«. Metaphy-sisch aufgeladen, hat Pistoletto sie auch einmal als Altarbil-der konzipiert. Die den Gesichtssinn wie das Bewußtsein erweiternde Wirkung erläutert Pistoletto 1978 unter dem Titel »Die Kunst übernimmt die Religion«: »ein Spiegel reflektiert potentiell jeden Ort und setzt die Widerspiegelung fort, auch dann und dort, wo das menschliche Auge nicht anwesend ist. Dadurch wird der Spiegel (...) zum Begeg-nungspunkt zwischen dem spiegelnden und reflexiven menschlichen Phänomen und der universellen Realität. Der Spiegel vermittelt also zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren.«
Eine ähnliche Erweiterung der menschlichen Perspektive regt auch »Il muro« von 1964 an, eine Plexiglasscheibe, die es zuläßt, sich zugleich Bilder des Raumes vor der Wand und hinter ihr zu machen. Die Doppelung des Sichtbaren bezieht die Spiegelung des Betrachters mit ein, der sich der eigenen Wahrnehmung – wie sie zwischen durchscheinendem und reflektiertem Bild hin und her schwankt – bewußt wird. Zwischen zwei gegenüberstehende Spiegel schiebt Pistoletto wiederum eine Plexiglasscheibe als »Hemmnis der Unendlichkeit« (Ausstellungsentwurf, 1976). Ungehindert wäre die unendliche Brechung bloßer Effekt. Die Konfrontation mit dem Nichts vollzieht sich wie im Falle des »Metrocubo« im Imaginären.