Author:   Kevin Wells  
Posted: 20.01.2002; 13:07:45
Topic: AUSSTELLUNGEN - KÜNSTLER 29
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BIG NOTHING << zurückweiter >>
Juan Muñoz

geboren 1953 in Madrid, lebt und arbeitet in Torrelodones

Nähert sich der Betrachter von der Seite, so sieht er sechs Figuren auf einer horizontalen Fläche in nahezu symmetrischer Ordnung stehen. Genauer besehen, handelt es sich um zwei Flächen, die dort, wo sie fast aneinander grenzen, von einer senkrecht stehenden Scheibe getrennt werden. Ist mit Hilfe der Glasscheibe eine Spiegelung dargestellt? Aber auf welcher Seite beginnt dann das Geschehen? Spiegelt sich die linke Figurengruppe in der rechten? Oder ist die rechte Gruppe die »realere« und die linke nur eine dreidimensionale Ausformulierung des vergleichsweise fiktiveren Spiegelbildes? Steht eine Gruppe vor dem Spiegel, die andere in der illusionistischen Tiefe optischer Reflexion?
Genauso unentscheidbar ist, worauf die Figuren stehen: ein Tisch, eine Bühne? Im Maßstab der Figuren könnte die Unterkonstruktion mit ihren sechs Querstreben an den Stirnseiten ebenso ein Gerüst sein. Auch die Figuren sind Mischwesen. Einerseits wirken sie steif wie Puppen, andererseits sind sie mit ihren Gesten und ihrer Beziehung zueinander realistische Miniaturen von Menschen, also Identifika-tionsträger des Betrachters innerhalb des skulpturalen Bildes. Puppen sind tote Dinge, sie wenden sich nicht einander zu und betrachten sich nicht im Spiegel. Aber sind die Figuren deshalb menschlicher? Könnten die Figuren Miniaturen von Schauspielern sein, die eine Spiegelung an der transparenten Scheibe nur darstellen? Dafür würde sprechen, daß ihre Anordnung nicht perfekt symmetrisch ist. Aber warum stehen sie dann auf zwei, durch die Scheibe getrennten Flächen? Befinden sie sich vielleicht nicht in einem Raum, in einem einheitlichen Raum-Zeit-Kontinuum? Ist links ein späterer Moment zu sehen als rechts? Zeigt uns die Tisch-bühne eine zeitversetzte Spiegelung? Dann wäre die Scheibe nicht nur eine Trennung des Raumes (und der Realitätsebenen »real« und »gespiegelt«), sondern auch ein Riß durch die Gegenwart, eine Entzweiung unserer einheitlichen Orientierung in Zeit und Raum.
Wer kann sich im Spiegel erkennen? Ist dort immer nur eine Maske zu sehen? Um sich selbst zu begreifen, ist ein Bruch mit dem Selbstsein nötig, ein Aus-sich-Heraustreten, eine befremdende Objektivierung der eigenen Subjektivität. Aber wenn man außer sich sein muß, um sich zu begreifen, wen begreift man dann? Es gibt keine Selbsterkenntnis ohne Selbstentzweiung.