Author:   Kevin Wells  
Posted: 08.09.2001; 16:34:54
Topic: ARCHIV - ICH BIN MEIN AUTO - KÜNSTLER 30
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ICH BIN MEIN AUTO << zurückweiter >>

Georg Scholz

Georg Scholz

Auf dem 30,5 x 49,3 cm großen Aquarell der frühen zwanziger Jahre zeigt sich eine urbane Straßenszene. Während auf der rechten Bildseite ein feister, rosiger, in Anzug und Fliege gepreßter Herr mit Monokel und Zigarre aus dem Fond eines offenen roten Automobils glotzt, gehen links im Bild ein knochig magerer und gebückter Mann mit einem zerschlissenen Jacket und ein ebenso armseliger Junge auf der Straße. Beide tragen die "Badische Morgenpost" unter dem Arm. Den Hintergrund bildet industrielle Architektur mit Gastürmen und Schornsteinen. Auffallend ist die Bilddialektik, die Georg Scholz (1880–1945) einsetzt: Dem dicken Reichen, dessen dralle Leibesfülle sich in den runden Formen des luxuriösen Automobils wiederholt, steht die ausgemergelte Gestalt des Arbeiters gegenüber. Das satte Rot der motorisierten Kutsche steht im Kontrast zum Grau der Straße, das sich in Gesicht und Kleidung der beiden Figuren aus der Arbeiterschicht spiegelt. Scholz zeichnet weniger eine realistische Momentaufnahme eines städtischen Straßenbildes als ein mit Symbolen besetztes Gesellschaftsmodell. Während das Auto in den Schriften der Futuristen als ästhetisches Beschleunigungsmotiv gefeiert wird und zur Revolutionsmaschine mutiert, oder in den urbanen Zukunftsvisionen etwa eines Oskar Nerlinger die Erscheinung der neuen Stadt prägt, deren konzentrierte Masse es logistisch zu organisieren gilt, fungiert das Motiv des Autos bei den Malern der Neuen Sachlichkeit, zu denen auch Georg Scholz zählt, als Herrschaftssymbol in statischer Form. Obwohl sich nach dem Ersten Weltkrieg der Werterelativismus längst zur kulturellen Grundfolie entwickelt hatte, vor der sich die bisherige Gesellschaftsordnung aufzulösen begann, und internationale Kunstbewegungen wie die Futuristen und Dada den neuen Menschen und damit auch die neue Gesellschaft ausriefen, behaupteten Künstler wie Scholz und Grosz in ihren Bildern weiter eine statische Klassengesellschaft – wenn auch in zugespitzter und pervertierter Form: Unternehmer, Arbeiter, Intellektueller, Soldat, Prostituierte. Wie bei Grosz haben auch die Typisierungen von Scholz den karikaturhaften Charakter der politischen Zeichnung. Das Auto interessiert nicht an sich in seiner eigenen Ästhetik, sondern hat lediglich Zeichenqualität. Mit "Zeitungsträger" (1920/21) positioniert sich Scholz zwischen der politischen Persiflage des Dada und dem sozialen Realismus der Malerei der Neuen Sachlichkeit. Arbeiter und Industrieller bewegen sich in entgegengesetzte Richtungen, das Automobil als Machtsymbol aber scheint für den Transfer auf die offensichtlich erfolgreichere Seite zu garantieren. DE

Georg Scholz: Malerei, Zeichnung, Druckgrafik. Kat. Stadt Waldkirch, 1990