Author:   Kevin Wells  
Posted: 08.09.2001; 16:33:30
Topic: ARCHIV - ICH BIN MEIN AUTO - KÜNSTLER 32
Msg #: 277 (Erste Nachricht zum Thema)
Prev/Next: 276/278
Reads: 12144

ICH BIN MEIN AUTO << zurückweiter >>

Anton Stankowski

Anton Stankowski

Während seines Studiums an der Folkwangschule in Essen 1926–1929 hat sich der in Stuttgart tätige Grafiker, Fotograf und Maler Anton Stankowski (geboren 1906 in Gelsenkirchen, gestorben 1998) mit den Regeln einer "Neuen Fotografie" vertraut gemacht, wie sie der Bauhaus-Lehrer Laszlo Moholy-Nagy theoretisch propagierte. Nach den Prinzipien dieses "Neuen Sehens" rückte er die gestalterischen Möglichkeiten der Fotografie, ihre Mittel und Wirkungen in den Vordergrund. Überzeugt von der Eigengesetzlichkeit des fotografischen Mediums legte er den Schwerpunkt seiner Arbeiten auf die Erfassung optischer Phänomene.
Zentral für Stankowskis Sachfotografie ist die Suche nach dem richtigen Belichtungsmoment, um das Flüchtige festzuhalten. Gleicht die Bezeichnung eines früheren Fotos als "Zeitprotokoll mit Auto" (1929) den abstrakten Titeln Giacomo Ballas, so ist bei einer Fotografie von 1930 unter Betonung der Kameramechanik auch die Belichtungszeit mathematisch präzise angegeben und ins Verhältnis zur Geschwindigkeit des fahrenden Autos gebracht: "1/100 sec. bei 70 km/h". Der Titel weist das Foto als Experiment aus. Unter den genannten Wahrnehmungsbedingungen verwandeln sich die Bäume am Rand einer Straßenflucht zu amorphen Mauern und vermitteln ein Gefühl von Geschwindigkeitsrausch. Aus der spektakulären Perspektive wird die Landschaft für den Autofahrer respektive den beifahrenden Fotografen zum Film. Die Unschärfe, die zu eliminieren eine der großen Herausforderungen der frühen Fotografie war, ist nun als bewußtes Gestaltungselement eingesetzt. Die Verwischungen visualisieren Bewegung.
Beeinflußt vom "Futuristischen Fotodynamismus" (Giulio Bragaglia) verbildlicht Stankowski jene Dynamik der technisierten Lebenswelt, deren erstes Symbol den italienischen Futuristen das Auto war. Ihrem Programm zufolge sollte die durch die Maschine ermöglichte, beschleunigte Bewegung und die damit einhergehenden Veränderungen des menschlichen Wahrnehmungsapparates die bestehende ästhetische Ordnung kippen. In F.T. Marinettis Hymne "An das Rennautomobil" ( 1912) ist der Traum vom rasenden, durch die Maschine geläuterten Körper mit dem Appell verknüpft, die Fesseln der (Kunst-)Tradition zu sprengen:
"Die Bremsen los! Ihr könnt nicht? Brecht sie denn,
daß sich des Motors Schwung verhundertfacht!
Hurrah! Die niedre Erde fesselt mich nicht mehr.
Endlich befrei ich mich und fliege schon (...)."
FE

Stephan von Wiese (Hg.): Anton Stankowski. Das Gesamtwerk (...). Stuttgart 1983
Anton Stankowski: Fotografie. Kat. Staatsgalerie Stuttgart 1991