Author:   Kevin Wells  
Posted: 08.09.2001; 16:26:39
Topic: ARCHIV - ICH BIN MEIN AUTO - KÜNSTLER 19
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ICH BIN MEIN AUTO << zurückweiter >>


Oskar Nerlinger, 8 Autobilder, 1927


Oskar Nerlinger

Mit dem Album "8 Autobilder" (1927) entwirft der Maler, Zeichner und Graphiker Oskar Nerlinger (geboren 1893 in Schwann/Württemberg, gestorben 1969 in Ost-Berlin) die Vision der Raumeroberung durch die Maschine und durch das Auto. Im fortschrittlich und links orientierten Kreis um Herwarth Walden und seine Berliner Galerie "Der Sturm" fühlt sich Nerlinger der Fraktion der Konstruktivisten seit Beginn der zwanziger Jahre verbunden. 1926 ist der Mitinitiator der Gruppe "Die Abstrakten". Der antiindividualistischen Kunstauffassung des Konstruktivismus, dem künstlerischen Klima von El Lissitzkys Proun-Bildern, den Maßgaben der "Neuen Typographie" von Laszlo Moholy Nagy und Herbert Bayer, aber auch den dadaistischen Zersplitterungen der Wahrnehmungswelt antwortet bei Nerlinger eine teils abstrakt, teils gegenständlich deutbare Klarheit. Einfachheit des Bildaufbaus und stringente Sachlichkeit machen sich zum – gleichwohl suggestiven – Ausdruck der im Aufbruch begriffenen neuen Zeit und erscheinen ihrem auf Objektivität gründenden wissenschaftlich-technischen Lebensentwurf angemessen. Die Collagen bauen – darin charakteristisch für die zwanziger Jahre – auf die enge Verbindung von künstlerischer Wahrheit und Objektivität auf. Grundformen wie Kreis, Rechteck, Dreieck und Trapez in den Farben Rot und Blau werden mit Fotografien und Zeitungsausschnitten, die farblich durch ihre reine Materialität wirken, in einen dynamischen Kontext gestellt. "Die Erfahrung lehrt, daß die sachliche Darstellung die am meisten überzeugendste ist. Auch der Laie weiß, wie sehr eine zeichnerische Wiedergabe gefärbt sein kann und wie gering die Möglichkeiten der Unwahrheit der Fotografie ist" (Oskar Nerlinger). In diesem Album wird das Auto, respektive der Rennwagen, im Kontext der Welteroberung gesehen. Wie ein Komet aus der Unendlichkeit fliegt er über Hochhäuser in New York, Sanddünen in Afrika, schneebedeckte Berge, Großbaustellen, Sportwettbewerbe, Menschenmassen dahin. Er suggeriert Geschwindigkeit, Dynamik, erotische Momente, aber auch Unnahbarkeit vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der optimistisch gestimmten Vision einer technologischen Weltbeherrschung und steht im Gegensatz zum rituellen Leben tradierter Gesellschaftsformen. Getragen von der Utopie der Machbarkeit entstehen Bilder einer aus den zentralperspektivischen, dreidimensionalen Fugen geratenen Welt und des einsamen Menschen in seinem rasenden bzw. fliegenden Körperpanzer, der sich über alles Irdische, Massenhafte, Althergebrachte erhebt, und letztlich erdenfern von allem Momentanen seiner eigenen Vision lebt, die durch die kontrollier- und beherrschbare Maschine ermöglicht wird. DT

Heidrun Schröder-Kehler: Oskar Nerlinger 1893–1969. Kat. Pforzheim 1993