Author:   Kevin Wells  
Posted: 08.09.2001; 16:18:07
Topic: ARCHIV - ICH BIN MEIN AUTO - KÜNSTLER 10
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ICH BIN MEIN AUTO << zurückweiter >>

Hannah Höch

Hannah Höch

Die Zersplitterung des Blickes war keine dadaistische Erfindung. Nicht künstlerische Willkür, sondern jede Autofahrt erzeugte eine wilde Collage von Anblicken und rasenden Mustern, zumal für die Wahrnehmung eines Erwachsenen um 1920, der nicht von Kindesbeinen an häufiges Autofahren gewohnt sein konnte.
Wie Kurt Schwitters in Hannover begnügte sich von den Berliner Dadaisten insbesondere Hannah Höch (1889-1978) nicht mit tagespolitischer Provokation. Ihre formal und assoziativ vielschichtigen Kompositionen, von ihren männlichen Dada-Freunden seinerzeit nicht recht ernst genommen, erwiesen sich (zusammen mit George Grosz´ Werken) als diejenigen Zeitdiagnosen, die den Berliner DADA-Aktionismus überdauerten. Ihre Fotomontagen porträtieren den hysterisierten Alltagsraum kurz nach dem katastrophal verlorenen Ersten Weltkrieg in Berlin. Sowohl das rasende Automobil wie die zuschnappende Fotokamera zerstörten die Überschaubarkeit eines Hier und Jetzt, einer von einem Menschen zu einem Zeitpunkt faßbaren Gegenwart. Die Geschwindigkeit des Kraftwagens ebenso wie die explosionsartige Vervielfältigung von Fotografien und Nachrichten in der Presse stehen symptomatisch für Überforderung und Desorientierung menschlicher Wahrnehmung, wie Höchs zersplitterte Bildordnung sie festhält. In der Collage hinterlassen zwei den Raum hysterisierende Maschinen ihre Spuren: das Automobil als sinnlos vielfaches, drängend herbeischwebendes Emblem, als Reifen und Gestänge, und die immer perspektivische Fotografie als Ausgangsmaterial des fragmentierten Klebebildes. Unter den Bedingungen harter Schnitte bleiben von dem "schönen Mädchen", das der Titel nennt, nur Versatzstücke, deren proportionale Beziehungslosigkeit das Zerfallen personaler Integrität anzeigen mag. Unter der riesigen Haartracht gähnt Leere, der Körperraum des "Mädchens" wird durchkreuzt von Autoteilen. Dabei scheint Höch das "schöne Mädchen" nicht spöttisch preisgeben zu wollen. Vielmehr hält die Fotomontage unerbittlich fest, was eine hochmotorisierte Medienmaschinerie, wie sie seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts zuerst die Metropolen, dann die gesamte westliche Gesellschaft beeinflußt, der oder dem Einzelnen antut. Bei Höch ist zu sehen, daß das Eindringen industrieller Visualität und der Werbewelt ins Menschenbild ein äußerst aggressiver Vorgang ist (von dem sich die bürgerliche Gesellschaft bis heute nicht erholt hat, im Gegenteil).
Hannah Höch, deren bedeutender künstlerischer Beitrag zu DADA sowie zur Entwicklung der Fotocollage und deren auffällige Sonderposition als einzige Künstlerin der Berliner Dadaisten erst Ende der sechziger Jahre kunsthistorisch bemerkt wurden, kommentierte ihre revolutionären Bilderfindungen 1975 im Rückblick ohne Auftrumpfen: "Ich sah meine Aufgabe darin, diese turbulente Zeit bildlich einzufangen."
MW

Götz Adriani: Hannah Höch. Köln 1980