Author:   Kevin Wells  
Posted: 08.09.2001; 16:14:09
Topic: ARCHIV - ICH BIN MEIN AUTO - KÜNSTLER 06
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ICH BIN MEIN AUTO << zurückweiter >>

Tamara Grcic

Tamara Grcic

"Gestern Mittag kam es zu einem folgenschweren Verkehrsunfall auf der B 495 in Höhe Erftstadt. Bei einem Frontalzusammenstoß stießen zwei Pkw zusammen. Beide Fahrer erlagen ihren Verletzungen noch am Unfallort, vier weitere Personen, darunter drei Kinder, wurden mit zum Teil schweren Verletzungen in das nahegelegene Krankenhaus eingeliefert."
So ähnlich könnte ein Kommentar zu der raumgreifenden Bodeninstallation "Autoteile und Decken" von Tamara Grcic (geboren 1964 in München) lauten. Die Künstlerin verteilt beschädigte Autoteile auf dem Boden: zersplitterte Scheinwerfer und Scheiben, zerbeulte Karosserieteile, abgebrochene Chrom- und Zierleisten. Die Autoteile werden gestützt, bedeckt und umwickelt von zahlreichen Decken und Kissen. Das Arbeiten mit verschrotteten Autoteilen ist seit César und Chamberlain bekannt, doch bei "Autoteile und Decken" geht die bildhauerische Erfindung wesentlich weiter. Es ist nicht nur die Anordnung der objets trouvés, die sich die Künstlerin auf Schrottplätzen zusammensucht, es sind nicht nur die haptischen Qualitäten der unterschiedlichen Materialitäten, die gegenläufiger kaum sein könnten (Blech, Glas – Wolle, Textilien), sondern es ist die Subtilität des künstlerischen Eingriffs, die aus dem alltäglichen Material veränderte Ordnungen schafft. Auf den ersten Blick scheint alle Lebendigkeit gewichen, man läuft über eine Art Trümmerfeld. Nach längerem Hinsehen entwickeln die verstreuten Fragmente eine Eigendynamik und beleben sich. In ironischer Umkehrung werden die Autoteile zu Verletzten, die schützend bedeckt werden.
Mit minimalen Eingriffen formt die Künstlerin viele einzelne Kleinskulpturen und wiederholt in ihrer Vorgehensweise ihr künstlerisches Prinzip der Fragmentierung: Die Autoteile werden überlagert, entzerrt oder isoliert, die Decken werden gefaltet und drapiert, mal als Einzelstück, mal in Verbindung mit Karosserieteilen. Die Sensibilität der Künstlerin für kleinste Veränderungen und deren Auswirkungen auf Wahrnehmungsprozesse und Bedeutungszuweisungen zeigte sich schon in früheren Arbeiten wie z.B. den "Blumenbildern" von 1992 oder der Fotoserie "Falten, N.Y.C." von 1997. Auch die Zusammenstellung der Farbwerte in "Autoteile und Decken" folgt keinem Zufallsprinzip, sondern fügt sich in die Gesamtkomposition ein. Auffällig ist das häufige kräftige Rot, das nicht nur an Blut, sondern auch an Leben denken läßt. Überhaupt gilt das Interesse der Künstlerin vielfach der Körperlichkeit hinter den Dingen, einer noch nicht bekannten oder wahrgenommenen Präsenz, die sich durch Verletzlichkeit und Veränderlichkeit artikuliert und bestehende Denkmuster und Bedeutungszuweisungen kippt. UT

Tamara Grcic. Kat. Fridericianum. Kassel 2000