Author:   Kevin Wells  
Posted: 21.03.2001; 16:24:45
Topic: ARCHIV – KÜNSTLER 03 – BIG NOTHING
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BIG NOTHING << zurückweiter >>
Jennifer Bolande

geboren 1957 in Cleveland/Ohio, lebt und arbeitet in New York

Pornofilme erzählen nichts. Kein narrativer Zusammenhang verknüpft die Folge der abgefilmten Kopulationen zu einer Geschichte. Zwar gehören Übergangsszenen wie das Betreten eines Zimmers oder der neckische Schluck Champagner (oder Eierlikör) konventionellerweise zum Pornofilm, aber angesichts der direkten Zweckbindung solcher Filme sind die Zwischenszenen eigentlich »tote Zeiten« (Umberto Eco). Der italienische Stardenker erhebt die verbindungslosen Füllszenen geradezu zum Kenn-zeichen von Pornofilmen: »Wenn die Protagonisten des Films länger brauchen, um sich von A nach B zu begeben, als man es sehen möchte, dann handelt es sich um einen Pornofilm.«
Für ihre Filmstills aus Pornofilmen hat Jennifer Bolande nicht etwa nur Füllsze-nen ausgewählt, sondern – noch banaler – leere Stühle, Sessel, Nachttischlampen, Konsolen, also die nebensächlichsten Requisiten in der immer nebensächlichen Kulisse des Pornofilms. Sie hat den filmischen Fortlauf erregter Bewegungen an den Stellen angehalten, an denen von Erregung nichts zu sehen ist. Ihre stillen Bilder zeigen den äußersten Rand dessen, was einen Pornofilm ausmacht: die blinden Flecken im voyeuristischen Fastfood. Einerseits machen die unbestimmt leeren Anblicke das Phänomen Porno geheimnisvoller und interessanter. Der voyeuristische Blick (der konsumiert) wird zum detektivischen (der phantasierend produziert). Im totalen Sexverzicht reauratisiert sich der Bezirk des Pornografischen paradoxerweise zum Erotischen. Andererseits stellen sich diese Filmstills als fotografische Starre dem filmisch fortlaufenden Blicksog »Porno« entgegen. Das Substrat, das Bolande aus dem stets zuviel versprechendenErregungsphan-tasma »Pornofilm« zieht – Bilder der Leere –, kann es in seiner lakonischen Härte durchaus mit der ästhetischen Gewalt von Hardcore-Szenen aufnehmen, die dem einsamen Onanisten nach geschehener Aufwallung auch nur innere Bilder der Leere hinterlassen.
Bolande folgt nicht moralischen Bilderverboten, sondern sie betreibt ihren Bilder-verzicht analytisch. Wie Eco gewinnt Bolande ihren deskriptiven Zugriff auf den Pornofilm über seine Leerstellen. Von da aus eröffnen sich Fragen: Wie pornografisch ist beispielsweise der Voyeurismus, mit dem wir allabendlich Fernsehnachrichten schauen? Ist nicht alle direkte Darstellung des menschlichen Leibes (ob nun im Porno oder in der Welthungerberichterstattung) ohne die Verhüllung durch Mehrdeutigkeit pornografisch?