Author:   Kevin Wells  
Posted: 23.01.2001; 13:40:24
Topic: ARCHIV – KUENSTLER 40 – BIG NOTHING
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BIG NOTHING << zurückweiter >>
Georg Winter

geboren 1962 in Biberach/Riss, lebt und arbeitet in Stuttgart

»Immer sehen wir nur von irgendwoher, ohne daß aber das Sehen in seine Perspektive sich einschlösse«, so hält Maurice Merleau-Ponty in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung die Paradoxie fest, daß im Zentrum jeder Wahrnehmung Nichtwahrnehmung herrscht. Ohne den blinden Fleck gibt es kein Sehen. Während ich etwas sehe, kann ich nicht gleichzeitig sehen, daß ich sehe. Unausweichlich und gewohnheitsmäßig vergesse ich mein Wahrnehmen in jeder einzelnen Wahrnehmung. Sobald ich mich darauf konzentriere, daß ich gerade wahrnehme, habe ich den Gegenstand meiner Wahrnehmung verloren. Im Alltag wird dieses Paradox durch die allgegenwärtigen technologischen Hilfsmittel für Wahrnehmung wie Monitore, Foto- und Videokameras nicht etwa relativiert, sondern verstärkt. Das Urlaubsfoto ist ein klassischer Fall von selbstvergessenem Wahrnehmen. Georg Winter 1997: »Immer geht es nur um die fertigen Bilder. Aber im Moment des Fotografierens stellen sich doch Fragen: Wer bin ich? Wo halte ich mich auf? Mit was für Gesten? Und welche Bedingungen dem anderen gegenüber stelle ich auf, wenn ich so ein schwarzes Gerät in die Hand nehme und ihm entgegenhalte? Mich interessiert Fotografie als Handlungsform. Die Abzüge sehen wir ja nicht, während wir fotografieren. (...) Was auf den Abzügen später zu sehen ist, hält nur einen verschwindenden Bruchteil von dem fest, was beim Fotografieren als Handlung passiert, also fast gar nichts.«
Georg Winter benutzt das Paradox der Wahrnehmung rückwärts. Er setzt den blinden Fleck an die Stelle des Wahrnehmungsgegenstandes. »Das Entwicklungsbüro für Kameratechnik (UCS) entwirft und baut die für Forschungszwecke benötigten Instrumente. Die Instrumente sind in der Regel aus Holz.« Statt mit einer konventionellen Kamera hantiert der Nutzer mit einem Gerät, das ihn auf seine direkte leibliche Wahrnehmungsfähigkeit zurückverweist. UCS entwickelte auch einen Monitor, dessen äußere Maße dem eines Fernsehers ähneln. Wir halten uns vor Monitoren auf in der Erwartung einer Veränderung (Reiz-Erregung). Der Ukiyo High Black Monitor ist ein reizarmer Monitor zur Bildorganisation.« Während der Nutzer vor der schwarzen Kiste sitzt, mag es in ihm zur »optimalen Frustration« (Heinz Kohut) kommen. Die Verneinung jedweder Betrachtererwartung von unterhaltender Zerstreuung in der Kunst und den Alltagsmedien frustriert ihn ausreichend, aber optimalerweise nur soweit, daß er über seinen täglichen Umgang mit Wahrnehmungsapparaten nachzudenken beginnt.