Author:   Kevin Wells  
Posted: 23.01.2001; 13:29:47
Topic: AUSSTELLUNGEN - KÜNSTLER 30
Msg #: 203 (Erste Nachricht zum Thema)
Prev/Next: 202/204
Reads: 6539

DAS TIER IN MIR << zurückweiter >>

SIGMAR POLKE

Bei der experimentellen Entwicklung immer neuer Bildformen spielte die Fotografie für Sigmar Polke (geboren 1941 in Oels/Schlesien, lebt in Köln) eine entscheidende Rolle. Die 14 Aufnahmen der Arbeit »Bärenkampf« von 1974 belichtete er auf dünnem Umkopierpapier, das er zusammengefaltet ins Entwicklerbad tauchte.
Symmetrische Gebilde erstarrter Entwicklungsflüssigkeit, Schleier von Fließspuren, Verwischungen und Knicken legten sich auf die Oberfläche der Fotografien. Polke hat seinen eigenen Worten nach »alle Fehler, die beim Entwickeln und Vergrößern geschehen können, eingesetzt, aber so, daß sie das Bild zugleich interpretieren« (1990). „Chimärenartig» schleichen sich die
fotochemischen Zufallsformen in die gegenständliche Welt ein und »produzieren Konnotationen« (Martin Hentschel, 1997), angesichts des grausamen Spektakels etwa Gedanken an verschmiertes Blut. Wie die Punkte in seinen Rasterbildern oder die Muster der Stoffe, auf die Polke gemalt hat, wirken diese Effekte transformierend. Sie verunklären nicht nur das Motiv und verleihen dem Foto Aura, sie deuten und vermitteln die beunruhigende Dramatik des im Negativ festgehaltenen Geschehens.
Polke fotografierte auf einer Reise, die ihn auch in die Opiumhöhlen Pakistans führte, ein allmonatlich stattfindendes Schauspiel. Zwei trainierte Kampfhunde, Afghanen, wurden vor zahlendem Publikum auf einen Bären losgelassen. Der brutale Kampf war Ritual, ein unmißverständliches Symbol für den damaligen Konflikt mit der UdSSR, der hier stellvertretend durch die Tiere ausgetragen wird: Zwei wendige, bissige Hunde treten gegen den gewaltigen, aber behäbigen und zudem festgebundenen Bären »Rußland« an. Mit aller Drastik schlägt uns die Archaik des seit alters in Arenen simulierten Krieges entgegen. Gleichzeitig werfen die Bilder ihren Schatten auf spätere, unweigerlich auch auf jüngste kriegerische Auseinandersetzungen voraus, die uns vor den Bildschirmen bannen und auf deren Verlauf nun die Börse wettet. Über naheliegende politische Assoziationen hinaus kann die Bildserie als allgemeine Metapher für menschliche Konflikte gelesen werden. Vor allzu naiver Parteilichkeit bewahrt uns Polkes nachträglich aufgelegter Schleier. Dieser unterscheidet das Seherlebnis des Bildbetrachters von der blanken Schaulust, durch welche sich die Zuschauer im Bild der Blutrunst der Kampftiere angleichen. FE

Sigmar Polke: Die drei Lügen der Malerei. Kat. Bonn/Berlin 1997/98



<< nach obenweiter >>