Author:   Kevin Wells  
Posted: 23.01.2001; 13:28:49
Topic: AUSSTELLUNGEN - KÜNSTLER 29
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DAS TIER IN MIR << zurückweiter >>

PABLO PICASSO

Ab 1933 dringt der Minotaurus, das stierköpfige Ungeheuer aus der kretischen Mythologie, in die Bildwelt Pablo Picassos (geboren 1881 in Malaga, gestorben 1973 in Mougins) ein. Ein menschlich-tierisches, zugleich göttliches Instinktbündel ist aus dem Labyrinth des Hephaistos ausgebrochen, unberechenbar widernatürlich, voller chaotisch destruktivem, hybrid sinnlichem Vermögen. Es wird Symbol der surrealistischen Bewegung und der von André Breton redigierten gleichnamigen Zeitschrift, für die Picasso zahlreiche Darstellungen schuf. An die innere und äußere Wildheit erinnert in der Radierung »Minotaurus, Trinker und Frauen« (1933) der gehörnte, faltig struppige Kopf, der bedächtig auf die Hand gestützt ist und eher zweifelnd an seinem männlichen Gegenüber vorbeischaut. Ihnen zur Seite ruhen selig ermattete Mädchen, die klassisch offenen Gesichtszüge spätarchaischen Koren entlehnt. Picassos Bilder vom Minotaurus erzählen von Rausch und Erotik, Gewalt, Leiden und Genuß an den triebhaft wollüstigen Empfindungen für das andere Geschlecht, ein orgiastischer Angriff auf Welt und Leben, hilflos ängstlich auch, besinnlich, voller Sucht und Zärtlichkeit, Kampf und Zuneigung, voller tödlicher Gewalt und brünstig liebender Vereinigungssucht. Das Spiel listiger Vernunft mit den Kräften der Natur inszeniert sich theatralisch in der Corrida, der Picasso 1959 eine Serie von Farblinolschnitten widmet. Das Töten des Stiers nach festgelegten Regeln als Demonstration einer seit den kretischen Stiertänzern im mediterranen Raum verwurzelten Tradition ist ein komplexes, menschlich-tierisches, männlich-weibliches Ritual um Liebe, Sexualität, Herrschen und Unterwerfen, um rationales Todeskalkül und instinktiv gelenkte Aggression. Picasso gestaltet dies als Zyklus in Formen voll zärtlicher Leichtigkeit und spröder Härte.
Weniger das graphische Bemühen um lineare Eleganz scheint ihn zu bewegen, als das energetische Umgreifen zerfasernd ruppiger Flächenkonturen. Ihnen gewinnt er eine direkte, scheinbar unkünstlerische Form ab, die den Bewegungen der Protagonisten archaische Unmittelbarkeit voller existenzieller Emotion zu verleihen scheint. Die formale Abstraktion steht durchaus Felszeichnungen eiszeitlicher Höhlenmalereien nahe und verleiht, fern von Blut, schmerzhafter Verletzung und grausamer Mißachtung der lebenden Kreatur, der Corrida eine mythische Dimension. DT

René Hirner, Wendelin Renn: Picassos Toros. Kat. Heidenheim 1996



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