Author:   Kevin Wells  
Posted: 20.11.2000; 17:09:04
Topic: AUSSTELLUNGEN - KÜNSTLER 13
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LOST & FOUND << zurückweiter >>



Marcell Esterházy

Ausgangspunkt für die Videoarbeit „v.n.p. v2.0“ von Marcell Esterházy war das sonntägliche Mittagessen im Kreise seiner Familie. Es ist wie ein Ritual: einmal in der Woche trifft sich die Familie des Künstlers und versammelt sich um den Großvater, den pater familias, der am Kopfende des Tisches Platz nimmt. Dieses gemeinschaftliche Essen, zu dem die Generationen vereint sind, dient unter anderem der Kommunikation und dem Austausch unter den Familienmitgliedern; für den Künstler bedeutet es darüber hinaus auch einen wichtigen Moment der persönlichen Annäherung an den Großvater. Für letzteren jedoch steht bei dem Anlass offensichtlich die Nahrungsaufnahme an erster Stelle. Der Großvater beteiligt sich nicht an der regen Konversation am Tisch; stattdessen isst er, langsam und viel.

Esterházy hält diese inkongruenten Erfahrungen mittels einer einzigen langen Kameraeinstellung fest, die den Großvater fixiert, jede seiner Bewegungen aufzeichnet: Wir sehen den alten Mann konzentriert seine Suppe löffeln, gierig auf einen Berg panierte Schnitzel starren, genüsslich die Gabel zum Mund führen, kauen, schlucken. Um die für gewöhnlich extrem langsamen Bewegungen des Großvaters dem allgemeinen Tempo am Tisch anzupassen, wendet Esterházy in seinem Video einen Trick an: Er beschleunigt beim Abspielen die Geschwindigkeit der Aufnahme, so dass es den Anschein hat, der alte Mann esse im „normalen“ Tempo. Dies hat wiederum zur Folge, dass seine Mitmenschen außerordentlich aufgeregt und nervös und in einer unverständlichen Comicsprache miteinander zu kommunizieren scheinen. Die Inkongruenz bleibt bestehen, doch durch die Verschiebung der tempi ist es nun die Realität des Großvaters, die vorgibt, was „normal“ ist. Selbstvergessen und in sich gekehrt, scheint er völlig unberührt zu bleiben von der hektischen Betriebsamkeit um ihn herum. Seine Bewegungen sind bedacht und stehen im starken Kontrast zum absurd wirkenden Verhalten seiner Tischgenossen, von denen ab und an Arme, Hände, teils mit rot lackierten Fingernägeln, abrupt im Bild erscheinen, temperamentvoll gestikulierend beziehungsweise Schüsseln, Flaschen und Gläser hin- und herreichend. Für Esterházy stellt dieser Eingriff den Versuch dar, die Wahrnehmung des alten Mannes für einen Moment erfahrbar zu machen, „die Zeit zu verlangsamen, sie anzuhalten, zurückzudrehen. […] meinem Großvater Lebenszeit zurückzugeben, selbst wenn dies auf Kosten einer Beschleunigung und somit eines Beschneidens unserer eigenen Lebenszeit geschieht.“ Die Arbeit thematisiert das Gefühl der Isolation und sozialen Inkompatibilität, die mit dem Prozess des Alterns in unserer Gesellschaft einhergeht.

Im familiären Kontext repräsentiert der Großvater einen bestimmten Abschnitt in der Geschichte Ungarns; er steht für das „alte“ Ungarn vor der Wende, für die Utopie (und das Scheitern) des Sozialismus, einer Staatsform, die von einer gewissen Verlangsamung der sie bestimmenden gesellschaftlichen Prozesse geprägt war. Der Großvater steht also auch im übertragenen Sinne für eine andere Zeit, die in der beschleunigten Gegenwart des „neuen“ Ungarns (das mit ihm am Tisch sitzt), seinem ambitionierten Vorwärtsstreben in eine europäische Zukunft, zunehmend in Vergessenheit zu geraten droht. So kann Esterházys Video als ein Plädoyer wider das Vergessen der eigenen Geschichte beziehungsweise für das Innehalten und Erinnern gesehen werden. Wie eine Entschlüsselung des rätselhaften Titels nahe legt, ist die Arbeit auch eine Hommage an den Großvater in seiner Funktion als Bindeglied zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart: „v.n.p.“ ist die stenographische Kurzschrift seines Namens.



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