Author:   Kevin Wells  
Posted: 20.11.2000; 17:07:48
Topic: AUSSTELLUNGEN - KÜNSTLER 12
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Miklós Erhardt

Die Videoinstallation „Havanna“ ist das Ergebnis einer künstlerisch-dokumentarischen Feldforschung, die Miklós Erhardt im Mai 2006 in Havanna, einer Satellitenstadt im Osten Budapests, durchführte. Er untersuchte die Auswirkungen der kapitalistischen Umstrukturierung des Landes auf die soziale und wirtschaftliche Realität eines der ärmsten Viertel der Hauptstadt. Darüber hinaus bot ihm dieses Projekt auch Gelegenheit, den Begriff einer sozial engagierten dokumentarischen Kunst auf ihre moralische Dimension hin zu überprüfen und für sich neu zu definieren.

Havanna, in den 1970er Jahren errichtet und zu Ehren der kubanischen Revolution nach deren Hauptstadt benannt, zählt mit über 20.000 Einwohnern, die auf 6.000 Hochhauswohnungen verteilt sind, zu den ehrgeizigsten Projekten im sozialen Wohnungsbau Ungarns. Von Anfang an begleitete diesen Stadtteil aber auch der Ruf, der gefährlichste Ort in Budapest zu sein. Nach der Wende verkam das Viertel und wurde zu einem sozialen Brennpunkt, in dem Armut und Gewalt vorherrschen: Die Wohnungen verloren an Marktwert, gleichzeitig schoss die Kriminalitätsrate in alarmierende Höhe. In den letzten zwei Jahren hat sich die Situation einigermaßen stabilisiert, was einerseits dem Engagement sozialer und kultureller Einrichtungen, andererseits dem Einsatz von Überwachungskameras zugerechnet wird. Trotzdem: Die Straßen Havannas gelten nach wie vor als unsicher. Die Geschäfte stehen größtenteils leer.

Die Herausforderung für Erhardt bestand darin, sich in das Viertel zu integrieren, um ein möglichst authentisches Bild vom alltäglichen Leben dort zu gewinnen. Erhardt formulierte den dokumentarischen Anspruch, die Hierarchie zwischen Beobachter und Beobachteten zu umgehen, die jenes „Safari-Gefühl“ (Erhardt) produziert, bei dem der Künstler zum Voyeur wird, der aus sicherer Entfernung das „Andere“ studiert. Die Distanz, die dabei entsteht, würde eine tatsächliche Annäherung an das Geschehene und Erlebte verhindern. So mietete Erhardt eines der zahlreichen leer stehenden Geschäfte in Havanna für einen Monat an, ohne seine Identität als Künstler bekannt zu geben. Den Prozess der Renovierung und die Neugründung des Ladens machte er zum eigentlichen Objekt seiner dokumentarischen Studie. Im Rahmen dieser Tätigkeit erschloss sich dem Künstler ein relativ authentisches Bild vom Leben in Havanna, auch wenn sein Radius auf den seiner neuen Identität als Ladenbesitzer begrenzt war. In Gesprächen mit Anwohnern, hauptsächlich Rentnern und Kindern, aber auch sozialen Außenseitern (beispielsweise Alkoholikern) nähert sich Erhardt den Sorgen und Problemen, die den Alltag der Menschen bestimmen. Höhepunkt dieser sozialen Interaktion war die Gründung des so genannten „Advice Seeking Office“ in den renovierten Räumlichkeiten: ein Büro mit festen Sprechstunden, in denen die Anwohner dem Künstler Vorschläge für Geschäftsideen unterbreiten konnten.

Nichts von diesen Gesprächen und Interaktionen hält der Film fest. Täte er dies, so Erhardts Überzeugung, würde er das Vertrauen der Menschen missbrauchen. Stattdessen zeigt der Videofilm Ausschnitte aus Erhardts Alltag in Havanna. Wir sehen den Künstler beim Renovieren des Shops. Lange Kameraeinstellungen aus dem Ladenfenster heraus geben seinen Blick auf das Viertel wieder: Teils durch die geschlossenen Rollos hindurch fokussiert die Kamera die Fassade des gegenüberliegenden Hauses, folgt Passanten ein kurzes Stück ihres Weges oder beobachtet einen Vater und dessen Tochter bei dem Versuch, auf einer angrenzenden Grünfläche einen Drachen steigen zu lassen. Der Film ist mit einem vom Künstler gesprochenen Text unterlegt, in dem Erhardt die Entstehungsgeschichte beziehungsweise den Verlauf des Projektes beschreibt, aber auch seine persönlichen Erfahrungen, Zweifel und Konflikte analysiert. Er endet mit einer Aufzählung der gesammelten Geschäftsideen, die durchaus die Originalität und Selbstironie der Bewohner sowie einen bei ihnen angestoßenen Prozess der Selbstreflexion widerspiegeln: Man solle hier doch ein Geldwäscheunternehmen gründen, einen Piercing- und Tattoo-Laden oder vielleicht einen Mikrowellen-Salon, in dem man sich eine Dosensuppe aufwärmen kann.

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