Author:   Kevin Wells  
Posted: 20.11.2000; 16:52:45
Topic: AUSSTELLUNGEN – KÜNSTLER 01
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Balázs Beöthy, This Song is about nothing, 1999–2000/2006, Installation, Digitaldruck auf Papier, Bewegungsmelder, CD, Verstärker, Boxen, 125 x 1000 cm



Balázs Beöthy

„Vieles ist töricht an eurer so genannten Zivilisation.“
Tatanga Mani (1871–1967), Häuptling der Stoney-Indianer

Ein Stadtindianer pirscht über das Dach einer jener Anlagen des sozialen Wohnungsbaus, wie sie in den 1970er Jahren vielfach in Budapest und andernorts gebaut wurden. Kleidung, Schmuck und Kriegsbemalung entsprechen dem durch Literatur und Film geprägten, stereotypen Indianerbild. Nur die Hochhäuser mit ihrer genormten Kastenarchitektur lassen sich so wenig mit den gängigen Vorstellungen von Prärie und Wildem Westen in Einklang bringen.

Beöthy Balázs knüpft in seiner Arbeit „This Song is about nothing“ an die Bildästhetik der Fototapeten der 1970er Jahre an. Wie diese wird sein Panoramabild unmittelbar mit Kleister auf der Wand fixiert. Eine akustische Dimension begleitet die visuelle Komponente: Aus der Ferne sind die Alltagsgeräusche der Wohnanlage zu hören, in der man mit 400 Familien zusammenlebt und sich doch einsam fühlen kann – so die Erinnerung des Künstlers, der selbst vier Jahre in einem solchen Mikrokosmos lebte. Nähert sich der Betrachter, wechselt jedoch die Tonspur. Zu hören sind nun Sequenzen aus einem jener DDR-Indianerfilme, die damals die Phantasie der ungarischen Kinder bannte. Die Arbeit unterstützt in ihrem starken Breitformat und den unsichtbaren Lautsprechern die Assoziation an den Illusionsraum des Kinos. Beöthy Balázs spricht von der „Magie der sprechenden Leinwand“.

In den 1960er Jahren erlangten Indianerfilme in der BRD und zeitversetzt auch in der DDR eine ungeheure Popularität. Zwar war die Exotik dieser imaginierten fernen Welt durchdrungen von den vertrauten Mustern der eigenen Lebensrealität, doch die zentrale Figur Winnetous verkörperte vor allem den kindlichen Wunsch nach einer moralisch unanfechtbaren Instanz. Das Äquivalent des bundesrepublikanischen Winnetoudarstellers Pierre Brice war in den DEFA-Produktionen der DDR Gojko Mitić, ein Idol auch in Ungarn: „Die Popularität dieses Schauspielers ist ungeheuer. Die Gerechtigkeit, die er verkörpert, die Wahrheitsliebe und Furchtlosigkeit – gepaart mit romantischem Abenteuer – machen ihn zu einem erstrebenswerten Freund, den man sonst nur aus Märchenbüchern kennt." (Margit Voß, BZ am Abend, 21. Mai 1974). Den meist jugendlichen Rezipienten dienten die Filme als Projektionsfläche für den Traum von einer anderen, weiteren Welt. Wenn Winnetou einmal einsam ist (selbst die Kamera kann sich dann nur ehrfurchtsvoll aus der Untersicht nähern, während er dem Sonnenuntergang entgegen reitet), dann ist er das gerade weil er das Gute in einer schlechten Welt verkörpert, weil er zeitlose Werte wie Gerechtigkeit, Treue und Integrität in einer Gesellschaft repräsentiert, die diese aus monetären oder expansiven Wünschen zunehmend vergisst. Die vereinfachte Unterscheidung zwischen Gut und Böse war politisch nicht unmotiviert: In den didaktischen DEFA-Produktionen war es stets die imperialistische Ausbreitung der kapitalistischen Cowboy-Gesellschaft, die Winnetou und den Indianern die Existenzgrundlage entzog.

Die privaten Erinnerungen an jene Indianerfilme, an die Wohnanlage und die Einsamkeit seiner Kindheit fließen in Beöthys Installation zusammen und werden zu einer kollektiv-gesellschaftlichen Erinnerung: „this setting can evoke nostalgia in many people“ (Balázs Beöthy, 2000). Zugleich ist der Stadtindianer aber auch ein alter ego des Künstlers und ein Sinnbild für seine Position in der heutigen Gesellschaft, für seine klare Sicht aus der Distanz zu den alltäglichen Dingen – ein Standpunkt, der notwendigerweise etwas Einsamkeit mit sich bringt. Vielleicht kann er im raschen gesellschaftlichen Wandel so etwas wie eine moralische Instanz darstellen? Ein Künstler, der diese Funktion ein Stück weit eingenommen und Balázs Beöthy unmittelbar zu seiner Arbeit inspiriert hat, war János Baksa-Sóos. In den 1960er Jahren war dieser ein Held der Budapester Underground-Kultur. Seine Aktionen als eine Art Großstadtindianer, als Umweltaktivist und Pionier einer neuen Lebensform machten ihn zu einem Idol in Beöthys Jugend – gleich neben Winnetou.



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