Author:   graesser  
Posted: 11.10.2000; 17:13:10
Topic: AUSSTELLUNGEN - KÜNSTLER 18
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Szacsva y Pál

Es ist keine leichte Fingerübung, eine neue Identität zu erlangen. Für Szacsva y Pál scheint es jedoch eine der eher gewöhnlichen Art gewesen zu sein, wie er in seinem Videofilm „Another Finger Exercise“ vorführt. Wir sehen, wie sich die Finger einer Hand auf der Armlehne eines Stuhls in wechselnden Rhythmen zu Marschmusik und militärischen Befehlen auf und nieder bewegen. Eine Frau versucht – mehr oder weniger bewusst –, ihre Fingerbewegungen den Befehlen unterzuordnen, im Gleichtakt zu bleiben. Sie ist bestrebt, die Befehle im Voraus zu erraten, um sich konform zu verhalten. Sie zögert, hält inne und scheint irritiert durch die zusätzlichen Anleitungen, die von einer weiteren Person (dem Künstler aus dem Off) erteilt werden. Lange Zeit bleibt verborgen, aus welcher Quelle die Musik und die Befehle kommen. Erst ein Schwenk der Videokamera gibt den Blick auf einen Fernsehbildschirm frei. Die Akteurin verfolgt die Live-Übertragung des feierlichen Zeremoniells in Dublin anlässlich der EU-Osterweiterung am 1. Mai 2004.

Verblüffenderweise strahlt im ungarischen Fernsehen nur der amerikanische Nachrichtensender und Global Player CNN diese Feier live aus. Das Beitrittsland selbst scheint nur bedingt Interesse am rein formalen Akt zu haben, einem Zeremoniell, das kaum Inhalte vermittelt. Die ungarischen Fernsehstationen reagieren indes nur auf die nachlassende Begeisterung über den vollzogenen Anschluss, über die mit sanftem Druck auferlegte Identifizierung mit dem westlichen Europa. Szacsva y Pál stellt in seiner Videoaufzeichnung der Fingerübung unverkennbar einen Bezug zu den sonst üblichen Aufmärschen der Arbeiter anlässlich des 1. Mais her. Militärmusik und martialische Befehlstöne erinnern an die erzwungene Begeisterung der Bevölkerung über die vermeintlichen (militärischen) Fortschritte, die per Aufmärsche vorgeführt wurden. Warum also sollte man sich eitel lächelnde Politiker im Fernsehen betrachten, die vor laufenden Kameras Hände schütteln und freundschaftliche Gesten austauschen?

In Ungarn hat zu diesem Zeitpunkt die EU-Begeisterung bereits ihren Höhepunkt überschritten. Im Vorfeld der Erweiterung gab es einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung, das Land wurde zur „Werkbank des Westens“. Die realen Löhne stiegen binnen dreier Jahre um 30% und bewirkten – Ironie der Geschichte – den Abzug von Produktionsstätten, etwa nach Rumänien. Die Europa-Euphorie der 1990er Jahre war vor diesem Hintergrund merklich gedämpft. Der Jubel wich einer Katerstimmung. So lässt sich auch Szacsva y Páls Fernsehzuschauerin vom großen, symbolträchtigen Ereignis nicht vollends mitreißen, scheint es vielmehr aus einer gewissen Distanz zu verfolgen. Das Geschehen greift aber schließlich aus der Fernsehübertragung in den Raum der TV-Betrachterin über: Die Szene löst sich im Einheitsblau der EU-Flagge auf. Die Zuschauerin wird vereinnahmt, unweigerlich wird sie zum Teil der neuen Gemeinschaft.

Szacsva y Pál beschäftigt sich mit den Entstehungs- und Wahrnehmungsbedingungen von Medienbildern. Sein „Perimedialab“ in Budapest ist eine Art Forschungslabor und der Künstler selbst ein sehr kritischer Analyst. In einem Vortrag im Rahmen des Symposiums „The Aesthetics of Resistance“ an der Kunsthalle Budapest schilderte er kürzlich aus seiner Perspektive die Problematik, Kunst unter (politisch-)aktivistischen Vorzeichen herzustellen und in Ausstellungen zu präsentieren. Jede Interpretation bedeute eine Vereinnahmung für die Ideen anderer und berge Missverständnisse in sich. Der Künstler sei daher nicht nur für die Produktion seiner Kunstwerke verantwortlich, er habe auch für die entsprechende Präsentation in der Öffentlichkeit Sorge zu tragen und sich zum Anwalt des eigenen Handelns zu machen. Angesichts dieser Aufgabenfülle ist das Künstler-Dasein wahrhaftig keine leichte Fingerübung!

Literatur:
Szacsva y Pál: The Aesthetics of Resistance, Sept. 2006, unter: http://perimedialab.hu/



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