BIG NOTHING << zurückweiter >>
Paul Delvaux

geboren 1897 in Antheit, gestorben 1994 in Furnes

Seit der Tod nicht mehr als bloße »Verwandlung« in der Erwartung einer kollektiven Auferstehung angesehen, sondern zunehmend individualisiert wurde, verschärfte sich seine Dramatik: »Der Tod als Tod des Subjekts wird doppelt dramatisch: Er mündet ins Nichts, ins Sinnentleerte; vor allem aber vernichtet er das Ich« (Louis-Vincent Thomas). In unzähligen, mehr oder weniger religiös motivierten Bildern führte das memento mori der Totenschädel und Sensenmänner dem Betrachter die eigene Vergänglichkeit vor Augen. Allein Christus soll sich ihr entzogen und in der Überwindung des Todes den Menschen Rettung gebracht haben. Als Paul Delvaux dieses zentrale Heilsgeschehen allein mit Skeletten als Bildpersonal darstellte, war der Skandal vorprogrammiert. Die auf der Biennale 1954 in Venedig vorgestellte »Kreuzigung« verurteilte Monseigneur Roncali, der spätere Papst Johannes XXIII und damalige Patriarch von Venedig, als Blasphemie. Er verbot dem italienischen Klerus den Besuch der Ausstellung. Zu seiner Rechtfertigung führte Delvaux eine rein ästhetische Motivation für sein Vorgehen an: »Ich wollte dieses gewaltige Menschheitsdrama zum Ausdruck bringen, das für mich eindringlicher mit Skelet-ten dargestellt werden konnte.« Nur indem er die Darstellungs- und Rezeptionsgewohnheiten religiöser Kunst durchbrach, hätte er »mit einem Schlag etwas andres erreichen« können, »etwas Dramatisches, etwas Lebendiges!« (Paul Delvaux, 1973)
Skelette spielten bereits in Delvaux’ surreal geprägten Bildwelten der 1940er Jahre eine entscheidende Rolle. Ausgangspunkt der langjährigen Faszination war wohl ein Besuch des Brüsseler Jahrmarkts 1932 gewesen, »wo mich die außergewöhnliche Bude des Musée Spitzner in ihren Bann geschlagen hatte, roter Samt in den Fenstern, zwei Skelette und eine eingeschlafene, mechanische Venus in Pappmaché.« Gerippe skizzierte der Belgier dann häufig in den naturkundlichen Museen, sie bevölkern seine gemalten Interieurs, agieren in Bibliotheken und Büros wie auch im öffetlichen Raum. Immer wieder halten sie als lebende Tote den im Leben wohnenden Tod vor Augen. In dieser Hinsicht scheinen die Skelette wie prädestiniert als Staf-fage der Passion Christi, der nach biblischem Verständnis geboren worden ist um zu sterben.
In Kreuzigung und Grablegung würde Delvaux einer möglichen Lesart zufolge Jesus als Skelett unter Skeletten zeigen, als sterblichen Menschen im Kreise derer, die in ihrem Mitleid wiederum den eigenen Tod vorwegnehmen. Die Irritation der Sehgewohnheiten könnte im Sinne des obigen Kommentars zu einer tieferen Ein-sicht führen. Eine Ambivalenz aber bleibt bestehen und wird noch durch die anachronistische nächtliche Kulisse verstärkt. Straßenlaternen und Strommasten rahmen ein traumhaftes Mysterienspiel, bei dessen makaber-manieristischer Inszenierung unklar bleibt, ob die heftig gestikulierenden Akteure um das reglose Gerippe in ihrer Mitte, das sie zu Grabe gebracht haben, wirklich trauern.