DIE WOHLTAT DER KUNST << zurückweiter >>






Pipilotti Rist, »Blauer Leibesbrief«,
1992/98, Videoinstallation (Farbe, Ton),
Projektor Dimension variiert mit der Installation, 8' 06" Loop

Pipilotti Rist

Die Musik ihrer Band Les Reines Prochaines und ihre Videoarbeiten seit Ende der 1980er Jahre machten Pipilotti Rist weit über die Kunstöffentlichkeit hinaus bekannt. Kritisch und konfliktbereit setzen ihre Videoinstallationen die Unterscheidung von Innen und Außen des menschlichen Körpers außer Kraft, immer auf der Grundlage von ihrer Überzeugung, „dass wir nur mit positiv formulierten Arbeiten einen menschlichen und kulturellen Fortschritt bewirken können“.
Frauen müssen in Berufen, die auch von Männern ausgeübt werden, besonders perfekt sein. Fachliche Wissenslücken mag ein Chefredakteur oder Geschäftsführer durch andere Fähigkeiten wie Führungsstärke oder sichere Intuition bei Risikoentscheidungen ausgleichen; eine Art nachsichtige Kompensationsökonomie des professionellen Anforderungsprofils, die aber Frauen gegenüber deutlich seltener gilt. Es ist aufschlussreich zu sehen, wie Pipilotti Rist, die sich über die auch heute fortbestehende Benachteiligung von Frauen nie Illusionen gemacht hat, in ihrem Beruf beides vermeidet: Die altfeministische Erstarrung in der Verweigerung und den selbstzerstörerischen Konformismus weiblicher Überanpassung. Ironischerweise belegen nicht nur landläufige Vorurteile – „Frauen und Technik ...“ –, sondern auch orthodox feministische Schreibgewohnheiten vom „eher männlich besetzten Blick der Kamera“ – informatica-feminale –, wie schwer es auch in den 1990er Jahren für eine junge Künstlerin ist, sich im Technik lastigen Feld aufwändig nachbereiteter Videokunst anspruchsvoll zu etablieren. Pipilotti Rist entgeht der absurden Einigkeit von altem Chauvinismus und alter feministischer Kritik, indem sie gegen alle Überperfektion von Anfang auf das Unperfekte setzt, Pipilottis Fehler, 1988, auf Intuition und – durchaus bedrängende – Phantasie, auf Bilder statt Text. „Wenn man beispielsweise das Thema Blut angehen möchte und den konventionellen Vorstellungen von Schmerz, Verletzung und Ansteckung, die damit verbunden sind, etwas Positives entgegensetzen will, kommt man mit Bildern viel weiter als mit einem intellektuellen Diskurs. Elitäre Diskurse interessieren Pipilotti nicht, und sie kommt auch nicht aus dieser Ecke. Ursprünglich hat sie eigentlich Trickfilme und Kulissen für Auftritte von Musikbands gemacht“, sagt die Künstlerin über sich in der dritten Person.
Dass Pipilotti Rists glamouröse Eroberung der Kunstwelt ihren Anfang im Bereich des Kunsthandwerks und der Gebrauchsgrafik nahm, hat historische Parallelen in der respektlosen Erneuerung, die Andy Warhol und andere Künstler der Pop-Art drei Jahrzehnte früher gegen die sakrosankt gewordene malerische Abstraktion durchsetzten. Offensichtlich antwortet der von Pipilotti Rist entwickelte Stil wie ein eigenes audio-visuelles Idiom auf die Zeitstimmung und die Deutungsnotwendigkeiten der 1990er Jahre. Video sieht sie als „farbige Wunderlampe, deren projizierte Bilder so nah an unseren halbbewussten Zuständen und Traumbildern sind“, dass sie jeden Menschen mit „normaler Fernsehbildung“ erreichen können.
Der „Blaue Leibesbrief“ (1992/98), ironisiert schon im Titel die Ordnungen der Sprache: Kein papierener Liebesbrief, ein kleiner Buchstabendreher nur, und schon spielt alles dort, wo Erotik, Wut, Kraft, Vergnügen, Enttäuschung eigentlich zu spüren sind: im eigenen Leib. Konsequent heben die Bilder die Trennung von äußerem Anblick und innerem Bewusstsein auf, von materiell fassbarer Szene und traumartig verschwimmenden Vorstellungshorizonten aus Erinnerung und Mythos, von romantisierender Überhöhung des Körperlichen und Schambehaarung in Nahaufnahme. Immer wieder tastet der Kamerablick in verzerrender Nahoptik den bleichen Körper einer jungen Frau ab. Zuerst sind blonde Haare zu sehen, dann ein riesengroß erscheinendes Gesicht, die geschlossenen Augen von Edelsteinen oder Plastikschmuck bedeckt, Hals und Kinn recken sich steil und isoliert ins Bild und wirken in surrealistischer Ambivalenz für einen Sekundenbruchteil wie ein grotesk erigierter Penis, Brüste und Bauch werden sichtbar, von Edelsteinen verziert, wie auch die Scham der Liegenden. Aus dem Schoß scheinen, so zeigt die weitere Kamerafahrt, die Edelsteine hervorzuquellen, ein Bild vom „Origin du Monde“ in technoidem Glamour und digitaler Farbigkeit. Klobig ragen die Knie ins Bild, das Kameraauge streift die Füße der Liegenden, ein Anblick fast wie die Füße des Gekreuzigten aus der Andachtsperspektive unterhalb des Kreuzes. Der Videoblick erhebt sich, die Frau liegt isoliert auf braun-feuchtem Waldboden, die Schärfe lässt nach, das Bild schwankt und entfernt sich, der Blick gleitet unscharf in die grünen Baumkronen und löst sich so auf, als könnte eine Videokamera in Ohnmacht fallen. Die wiederholte Betrachtung dieses Ablaufs engt die Assoziationen eigenartiger Weise nicht weiter ein, präzisiert nicht, sondern multipliziert sie weiter. Welcher Ort ist eigentlich zu sehen? Die suggestive Musik platziert sich mit wenigen Akkorden und ruhiger Variation irgendwo zwischen Xylophon und tropfendem Wasserhahn, einladend in ihrer Lässigkeit, abgründig in der Verweigerung jedweder illustrativer Begleitung der Bilder. Der „Blaue Leibesbrief“ zeigt immer wieder ein rückwärts schreitendes Entfernen, etwas schwimmt weg, kann wie im Traum oder in verblassender Erinnerung nicht festgehalten werden – und entfaltet paradoxerweise gerade daraus seine Anziehungskraft, seinen suggestiven Sog. Video, sagt Pipilotti Rist, sei ihr Versuch, „an die Komplexität der Bildermischung in unserem Kopf heranzukommen“.


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