DIE WOHLTAT DER KUNST << zurückweiter >>



Tracey Moffatt, »Something More«, 1989,
Cibachrome, Motiv je 97 x 126,5 cm

Tracey Moffatt

Wer hätte als Pubertierender nicht schon verbotenerweise den einen oder anderen Foto-Roman unter der Schulbank konsumiert? Je schwülstiger die Liebesgeschichte, je konstruierter der Plot, je plakativer die Bilder, desto mehr wuchs in langatmigen Unterrichtsstunden das Begehren, sich mit Hilfe der Bilder-Saga eine heimliche Absenz zu gestatten. Tracey Moffatt greift im Wissen um die unheimliche Suggestivmacht des Trivialen in ihrem Foto-Zyklus Something More auf das Klischee-behaftete und artfremde Genre zurück, verzichtet aber auf eine textliche Erläuterung ihrer in neun Einzelszenen aufgegliederten Bildgeschichte. Auch sie schürt mit betont aufreizenden Inszenierungen in Farbe und Schwarzweiß das voyeuristische Verlangen des Betrachters nach einer möglichst giftig-schillernden Tragik-Melange: Sex, Desire, Hate and Crime – das ganze hollywoodeske Potential eines halbwegs gelungenen Melodrams taucht auf, wenngleich in unterschwelliger und parodistischer Form. Soviel nur zur bewusst fragmentarisch gehaltenen Erzählung: Unerklärliche Gewalt bricht eines brütendheißen Sommertags über eine merkwürdige Farmergemeinschaft herein. Geographischer Schauplatz ist, den gemalten Studiokulissen nach zu urteilen, das australische Hinterland am Fuße einer Gebirgskette. Eine junge Frau im glamourösen 'Retro-Styling‘ der fünfziger Jahre verlässt das beengte Heim eines Blockhauses. Misstrauisch beäugt wird der demonstrative Abnabelungs-prozess von einer blonden Schlampe und einem fettem Trunkenbold, den vermutlichen Eltern der von Tracey Moffatt selbst verkörperten Protagonistin. Den Weg in die Großstadt Brisbane säumen mysteriöse Begleitszenen und Flashbacks – eine Odyssee mit blutigem Ausgang für die scheinbar unschuldige Landflüchtige. Am Ende der Bildstrecke sieht man die junge Frau wie einen gefallenen Engel in einer Schwarzweißaufnahme bäuchlings auf der Straße niedergestreckt. Es ist eine durch und durch hybride Welt, in die uns Tracey Moffatt mit ihren schlaglichtartigen Close-ups und beengten Bildausschnitten in Something More entlässt. Nicht nur, weil motivisch widerstreitende Elemente des Road-Movies, Märchens, Westerns, Südstaaten-Epos, Soft-Pornos, Kriminalromans Eingang in die Bildgeschichte gefunden haben. Mehr noch beunruhigt die mäanderhafte Mehrdeutigkeit der wie Indizien zu einem Gewalt- oder Sexualverbrechen eingestreuten gegenständlichen Symbole. Für sich allein betrachtet sind durchaus schlüssige Attribute aus dem ikonographischen Netzwerk herauszufiltern: Schwarze Rosen auf dem Cocktailkleid des zur Prinzessin mutierten Aschenputtels als unglücksverheißende Vorausdeutungen. Ein brachial in den Holztisch gerammtes Küchenmesser als vermeintliche Tatwaffe. Der Ausschnitt eines Motorrads als Pars pro toto männlich codierter Machtausübung und Sexualität. Aber warum repräsentiert ausgerechnet eine Frau mit Peitsche das Biker-Milieu? Und wie ist die Gestalt eines blutjungen, der Protagonistin offenbar hoffnungslos verfallenen Asiaten zu deuten? Damit nicht genug der schauerromantischen Verwirrkomplotte: Sprechen die Initialen „S“ und „M“ des Titels nicht ebenso von sadomasochistischen Praktiken wie die als Eyecatcher ins Bild gesetzten Domina-Accessoires von Lederstiefeln, Peitsche und blutroten Fingernägeln?
Es ist ein ungeheurer Fundus an kulturhistorischen und cineastischen Verweisen, der in einer selten raffinierten Re-Inszenierung kollektiver wie persönlicher Traumata aufbereitet wird. Tracey Moffatt bricht die Foto-Story mit harten Schnitten und unvermittelten Perspektivwechseln. Selbst der (Kunst-) geschichtskundigste Interpret muss sich außer Stande sehen, die Leerstellen im rein fiktionalen Gefüge einigermaßen stringent zu schließen. Moffatts diskontinuierlicher Bilderkosmos scheint mehr dem halluzinativen Reich eines Tag- und Nachtträumers anzugehören. Der erzählerische Fluss ist außer Rand und Band geraten, letztlich durch ein Stakkato von spektakulär dargebotenen Stills ersetzt worden. Vom „Terror der ungenauen Zeichen“, sprach Roland Barthes in der berühmten Abhandlung über das offene Kunstwerk in seiner „Rhetorik des Bildes“. Es ist, als hätten sich vormals verbindliche Deutungsmuster für alle Zeiten von ihrem soziokulturellen Background gelöst und würden nun frei und wild durch die Atmosphäre der mit filmischen Mitteln dargebotenen Bildgeschichten flottieren, um sich immer wieder mit unvorhersehbaren Sinnschichten aufzuladen. Tracey Moffatt jedenfalls lässt ihre subjektiven Phantasmen aus einer doppelbödigen Textur von Kinomythen und Ethnologischem aufsteigen. Schließlich prägten Filmromanzen und TV-Serienschicksale die aus einem proletarischen Milieu stammende Künstlerin, laut eigenem Bekunden, ursprünglich stärker als das reale, offenbar nicht sehr kommunikative Umfeld. In den Jahren ihrer Kindheit und Jugend habe sie die Highlights aus dem britischen, amerikanischen, australischen TV förmlich in sich aufgesogen, sagt sie. So zählt Tracey Moffatt zusammen mit Pipilotti Rist und anderen zu jener ersten Generation aufrührerischer Video- und Foto-Künstlerinnen, deren Imaginationskraft ohne den Oberflächenkult und die Idole des Massenmediums Fernsehen gar nicht denkbar wäre. Noch in anderer Hinsicht scheinen sich kindliche Prägungen als Sediment in ihrer Kunst abgelagert zu haben: Tracey Moffatts Sozialisierung spiegelt symptomatisch eine lange in Australien übliche kolonialistische und rassistische Praxis wider. Programmatisch wurden Aborigines-Kinder zur nachhaltigen Assimilierung der Ureinwohner zwangsweise in weiße Haushalte versetzt. Tracey Moffatt, als halbe Black-Australian bei weißen Adoptiveltern aufgewachsen, personifiziert mit ihrer Biographie bereits ein Patchwork aus multiplen Identitäten. So gelang ihr gleich die mehrfache Normüberschreitung, als sie in den achtziger Jahren eine bis dahin nahezu ausschließlich männlichen, weißen, bürgerlichen Künstlern vorbehaltene internationale Karriere als Fotografin starten konnte. Und auch mit ihren mutwillig zerrissenen bildnerischen Erzählfäden bringt Tracey Moffatt bewusst binäre Denkmodelle zum Schwinden, kommt damit nahezu traumwandlerisch einer Forderung der Post-Feministinnen nach Dekonstruktion und Subversion der stereotypen Identitätszuschreibungen entgegen. Gesellschaftlich eingefrorene Schablonen des Sexuellen überspitzt sie in „Something More“ derart drastisch, dass diese in ihrer ganzen Lächerlichkeit bloßgestellt werden. Es scheint fast, als habe Tracey Moffatt die „Gender-Päpstin“ Judith Butler beim Wort genommen, wenn sie versucht, die Idealistik der herrschenden Geschlechtsnormen theatralisch zu pointieren und damit aufzuweichen. Der musicalartige Tenor ihrer Foto-Inszenierung unterstreicht das Exaltierte des Rollenspiels.
Wenn Tracey Moffatt zudem die gesellschaftliche Marginalisierung von Nichtweißen in ein ethnisch zwiespältiges Licht rückt, so ist hier erneut indirekt der Einfluss der Gender-Studies verspürbar. Mit den „multi-ethnischen“ Darstellern in „Something More“ hintertreibt sie dualistische Schemata, zu denen natürlich auch die undifferenzierte Zuordnung der Menschen nach Hautfarben gehört. Noch deutlicher als in „Something More“ kommt die Auflösung und radikal subjektivistische Umdeutung von westlichen Repräsentationsmustern in dem Video-Frühwerk „Night Cries – A Rural Tragedy“ zum Ausdruck. Ethnische Konflikte bilden einen von mehreren möglichen Filtern, durch den man die geschilderte Mutter-Tochter-Beziehung betrachten kann. Es handelt sich um eine artifiziell, nach dramaturgischen Bühnenrichtlinien überzeichnete Stummfilm-Tragödie. Angesiedelt im Niemandsland der australischen Wüste sieht man eine ältere Frau, eine Aborigine, ihre greisenhafte weiße Pflegemutter versorgen. Hassliebe strahlt das auf wechselseitigen Abhängigkeiten beruhende und von zwanghaften Ritualen gesteuerte Verhältnis der beiden aus. Zuweilen gellen surreale Kreischgeräusche durch den mit Ressentiments aufgeladenen Psycho-Angstraum. Tracey Moffatt paraphrasiert das australische Melodram „Jedda“ von 1955, in dem die Verschleppung eines Aborigine-Mädchens auf eine weiße Farm als moralisch zu befürwortender Zivilisationsakt geschildert wird. Mit der Heldin von „Night Cries“ zeichnet die Künstlerin letztlich das virtuose Porträt des Anders-Seins: Ihre Jedda ist handwerklich geschickt wie ein Mann, liebt die Pflegemutter bis in den Tod, als sei es ihre leibliche, bleibt trotz ihrer nicht biologisch erklärbaren Anhänglichkeit selbstbestimmt und selbstbewusst. „Meine Bilder sind so persönlich, dass es mir selbst manchmal peinlich wird“, gestand Tracey Moffatt in einem Interview. Ungeachtet dessen, gelingen ihr postkolonialistische Allegorien von geradezu universeller Gültigkeit.


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