Erik Göngrich:
Picknick-Stadt*
In welcher Farbe würden Sie gerne Ihre Stadt anstreichen?
, 2001/2004

Installation, Diaprojektion
Zeichnungen, Texte, 81 Dias
Erik Göngrich, Courtesy ZKM

 
Für seinen Istanbul gewidmeten Werkkomplex wählt Erik Göngrich den Begriff »Picnic-City« für die Metropole am Bosporus – eine Referenz auf das erfinderische und flexible Wesen dieser Stadt und die Improvisations- und Adaptionsfähigkeit ihrer Bevölkerung; gleichzeitig aber auch eine Anspielung auf die vielen farbigen (Plastik-)Teppiche, die zum Freitagsgebet auf den Plätzen vor den Moscheen ausgerollt werden und das grau-braune Stadtbild in kürzester Zeit bunt einfärben. Im Mittelpunkt des Interesses steht für Göngrich bezeichnender Weise nicht das historische Zentrum Istanbuls, jene 10% der Stadt deren Bilder (Hagia Sofia, Topkapi, das Goldene Horn...) tief in unserem kollektiven Gedächtnis verankert sind. Die Installation Picknick-Stadt* fokussiert unseren Blick auf die ausgedehnten Vorstädte und Randgebiete des Stadtgefüges. Erik Göngrichs Bilder entstehen dort, wo Narben, Risse und Unebenheiten eine pluriforme urbane Landschaft charakterisieren und unterschiedlichste Interessen aufeinander treffen. Der visuellen Befragung durch die projizierten s/w Zeichnungen werden gleichfalls projizierte Texte gegenübergestellt, die die Bewohner zu Wort kommen lassen. Auszüge aus Veröffentlichungen über die Stadt und Fragmente aus Gesprächen vermitteln Hintergrundinformationen über Wachstum und Ausbreitung Istanbuls, über Baupläne und Baupraxis, über Spekulation und politischen Alltag.

Eine Straßenecke, ein Häusermeer, eine Baulücke, ein Panorama, eine Brandwand, eine Bushaltestelle - abertausende Fotografien, die bei ausgedehnten Arbeits- und Studienaufenthalten entstanden, sind Göngrichs schier unerschöpflicher Bildfundus, ein persönliches Archiv, aus dem er seine Kompositionen zusammenstellt. Nur dem geübten Betrachter fällt auf, dass sich hin und wieder Eindrücke aus anderen Städten und Mega-Städten (Bogota, Buenos Aires, Paris, Halle, Berlin) unter die Istanbul Bilder mischen. Das Portrait einer Stadt erweitert sich zu einer Analyse des Städtischen, des Urbanen an sich.
Die aus dem Stadtgefüge isolierten Ausschnitte bekommen einen fast skulpturalen Charakter. Göngrich spürt diese besonderen, von Menschen gestalteten Objekte einer urbanen Situation auf und liefert somit eine Bestandsaufnahme des Verhältnisses der Menschen zu ihrer städtischen Umgebung. Dabei gilt sein ganz spezifisches Interesse vor allem den emotionalen Eindrücken, die eine Stadt ihren Bewohnern vermittelt. Wie fühlt eine Stadt sich an? Und, vor allem, wie könnte und wie sollte sie sich anfühlen? Welchen Einfluss hat die Gestaltung der urbanen Umgebung auf den Einzelnen?

Mit seinen Fragen geht er noch einen Schritt weiter, indem er den Phantasien der Einwohner in Bezug auf ihr städtisches Umfeld einen Raum öffnet. »Wie würden Sie gerne Ihre Stadt anstreichen?« steht als Frage im Raum. Auch hier tritt der Bezug auf Istanbul hinter einem allgemeineren Interesse zurück. Der Untertitel der Installation verweist auf den umfangreichen Fragenkatalog, den Erik Göngrich bei seinen Befragungen vor Ort einsetzt: »Mögen Sie Stadtpläne oder fragen Sie lieber Passanten nach dem Weg?«, »Hat ihr Lieblingsarchitekt in ihrer Lieblingsstadt gebaut?« oder »Was ist für Sie touristische Architektur?«. In zahlreichen Fragen formuliert er seine Anregung, den öffentlichen Raum bewusster wahr zu nehmen, und sich mit seiner Gestaltung auseinander zu setzen. Seine Dokumentationen und Analysen wiederum sind häufig der Ausgangspunkt für darauf aufbauende künstlerische oder architektonische Projekte im öffentlichen Raum.
Im Mittelalter orientierten sich Beschreibungen von Städten meist am »Modell« des biblischen Jerusalem, in der Renaissance entwarfen Maler und Architekten für ihre Fürsten die »ideale Stadt«. Wie sehen unsere Idealvorstellungen und Utopien heute aus? Und von welcher Realität werden sie inspiriert?

Text: Ulrike Havemann