xurban:
Kostantiniye: Siegecraft, 2004

Installation,
Multiprojektion mit Text, Ton
xurban, Courtesy ZKM

 
Das Panorama:
Alle großen Städte dieser Welt bieten ihren Betrachtern ein spektakuläres Panorama, und Istanbul ist hier keine Ausnahme. Aber nur wenige Städte haben eine Topographie, die dieses Panorama zu einem Teil der Alltagserfahrung werden lässt. Konstantinopel wird gelegentlich als das Rom des Ostens bezeichnet, und einer der Gründe für diesen Vergleich ist die Ähnlichkeit der Topographie - beide Städte liegen auf sieben Hügeln. Für vergleichbare Ausblicke auf die Stadt war man in Paris beispielsweise darauf angewiesen, dass Nadar eine Kamera an einem Heißluftballon befestigte. Über lange Zeit hinweg haben unzählige Maler die Hügel am Goldenen Horn und entlang des Bosporus auf der Suche nach einem Aussichtspunkt bestiegen, von dem aus sich die Großartigkeit der Stadt für jedermann sichtbar darstellen ließ. Mit Ausnahme von einigen einheimischen Malern handelte es sich bei den meisten um reisende Künstler aus Europa, die in der Regel über Beziehungen zum ottomanischen Hof verfügten. Die ottomanische Herrscherelite stand dem eigentlichen Zweck eines Gemäldes, nämlich der Zurschaustellung der eigenen Reichtümer, nicht gleichgültig gegenüber. Ähnlich dem von Jeremy Bentham entworfenen Gefängnismodell aus dem 18. Jahrhundert mit seinen von einem zentralen Punkt aus jederzeit einsichtigen Zellen ist ein kompletter Überblick über den Besitz eine Bestätigung von Macht und Dominanz. Heutzutage bestätigen die Bilder, die wir heute unter dem Beifall der Wissenschaft vom Mars gesendet bekommen, diese These.

Die Belagerung:
Bezogen auf eine historische Metropole wie Istanbul kann man den Begriff ‚Belagerung’ mit vollkommen unterschiedlichen Bedeutungen verwenden, je nachdem, ob man die historische oder die heutige Situation im Auge hat.

Die Belagerung von Konstantinopel fand 1453 statt, kurz vor dem endgültigen Fall von Byzanz. Die Dank Augenzeugenberichten (Frantzes und Barbaro) gut dokumentierte, rund 50 Tage dauernde Belagerung war eine schreckliche Zeit für die Bewohner, die sich plötzlich in die Auseinandersetzungen zwischen Byzanz, Venedig und Genua verwickelt sahen. In dem von Glaubensunterschieden noch verstärkten Konflikt wurden die Einwohner schließlich von ihrem barmherzigen Gott verlassen und ihrem Schicksal überlassen. Selbst 1500 Jahre nach ihrem Bau und 550 Jahre nach der Belagerung ist die Stadtmauer heute noch weitgehend erhalten und verstellt wie damals den Blick nach außen. Unter diesen Bedingungen konnten die Blicke der Besetzer nicht erwidert werden und die Belagerten wendeten auf der Suche nach Beistand ihre Blicke gen Himmel. Die in der Nacht vor dem Fall der Stadt in der Hagia Sophia zusammengedrängten Menschen mussten erleben, wie ihre letzten Gebete unbeantwortet in der Nachtluft verklangen.

Wenn man dagegen das Wort »Belagerung« auf die moderne Mega-Stadt bezieht, bezeichnet es eine völlig andere Art des Territorialkonflikts. Die Tatsache, dass sich die Bevölkerung Istanbuls in den vergangenen 30 Jahren verzehnfacht hat manifestiert sich in einer völlig unkontrollierten Ausdehnung und Zersiedelung des Stadtgebiets. Eine erste Welle von Neuankömmlingen gewann ihren Kampf um das im Staatsbesitz befindliche Land am Stadtrand und konnte sich Immobilien sichern. Die zweite Welle verwandelte die Innenstadt in einen Slum - und folgte so mit einiger Verspätung dem Vorbild anderer Industriestädte weltweit. Die dritte und letzte Phase folgte ebenso dem bekannten Modell der Gentrifizierung. Die sozial Schwächeren werden zu Gunsten einer globalen oder lokalen Elite vertrieben. Da das Bild des „wirklich Urbanen“ so unscharf ist, werden die Territorialkonflikte in Istanbul an mehreren Fronten gleichzeitig geführt.

Archäologie:
Auch in anderen Projekten haben wir bereits darauf hingewiesen, dass Istanbul zwischen Tradition und Veränderung ein schizophrenes Eigenleben führt. Die Stadt scheint ein wehrloses Opfer für das internationale Kapital zu sein und soll von diesem als malerischer, historischer, nostalgischer Anziehungspunkt für den internationalen Tourismus und den Welthandel kolonisiert werden. Doch dieses Anliegen steht mit den örtlichen und feudalen Machtsystemen in Konflikt. Das Land wird zwischen dem korrupten Staat, dem mächtigen Militär, den gierigen Spekulanten, der örtlichen nationalistischen Organisation oder der Mafia, fundamental-islamischen Bürgermeistern und verschiedenen anderen, großen und kleinen Akteuren unterschiedlichen Kalibers zerrieben. In dem eng begrenzten, klaustrophobisch anmutendem städtischen Raum hat jede Partei ihren eigenen Einflussbereich, ihren Anspruch auf ein Gebiet, das von ein paar Quadratmetern vor einem Laden über ein weiteres Stockwerk auf einem Wohnblock bis zu einem der riesigen, zwar völlig illegal, aber unter dem Schutz der Stadtregierung gebauten Hotelkomplexe reicht.

Als »Archäologische Feldarbeit« haben wir die früheren Initiativen von xurban bezeichnet; mit ihrer Hilfe wollen wir die ungeschriebene, unbekannte Geschichte der Schauplätze in diesem Teil der Welt ans Licht bringen. Wenn es um die Nutzbarmachung von städtischem Raum in Istanbul geht, werden wir, wie schon in der Vergangenheit, sicherlich nicht auf die Stadtplanung, Grundbücher und Baugenehmigungen oder andere »frisierte« offizielle Daten zurückgreifen. Stattdessen richten wir unsere Aufmerksamkeit auf Grundstücke und kleine Parzellen, die zwischen Machtkämpfen und Besitzansprüchen gewissermaßen frei schweben und auf ihre »Erschließung« warten, bis dahin aber für alle möglichen Zwecke genutzt werden können.

Das Projekt:
Der fotografische Teil der hier präsentierten Archäologie konzentriert sich daher nicht zufällig auf die Flächen entlang der Mauern um die Altstadt, die eine heruntergekommene Pufferzone bilden - jenseits geht das Plündern weiter. Die Fotos bieten nur einen begrenzten Blick auf dieses Brachland und erinnern an den historischen Niedergang, wohingegen die Videopanoramen die sich ausbreitende Mega-Stadt von bestimmten Aussichtspunkten zeigen und einen starken Kontrast zur bekannten und klischeehaften Silhouette von Istanbul bilden.

Das Ziel des Projekts ist es, die Membranen zwischen den einzelnen Übergangszonen zu untersuchen. Unterschiedliche Schichten der Stadt zeigen uns, dass selbst bei der vollständigen Kontrolle eines Gebiets durch die wirtschaftlichen, politischen und militärischen Institutionen dort auch immer Räume der vorübergehenden Neutralität bestehen. Diese Räume werden von Bevölkerungsgruppen definiert, die ohne Macht, aber dennoch aktiv sind und diese vorübergehend existierenden Bereiche nutzen. Dieser nur temporär vorhandenen Sedimentierung gilt unser Interesse.

Text: xurban