Ertuğ Uçar, Simge Göksoy, Erhan Muratoğlu:
Statistiklal, 2003-2004

Rauminstallation,
Projektion, Ton, Tapete, Fotografien,
Dokumentationsmaterial
Installation 438,9 x 794,2 x 356,4 cm
Ertuğ UUçarar, Statistiklal Workshop Team. Teget
Architecture © 2003, Courtesy ZKM

 
Die Geschichte von Istatistiklal

Istanbul: ein befremdender, süchtig machender Organismus, der unaufhörlich expandiert, sich ausbreitet und aufbläht. Jeder Versuch, die Stadt zu erfassen oder ihr zu folgen, würde am Tempo ihrer Metastase scheitern.

Istiklal [1]: ein Teil der Stadt, Rückgrat dieses gigantischen Organismus und zugleich bizarrer Spiegel der ganzen Stadt. Hier kann man den Tag verbringen, die Nacht erleben, dem Fluss des Lebens auf der Achse vom Tünel zum Taksimplatz folgen, sich einlassen, mit der Stadt vertraut werden. Ein Ineinander von dunklen Passagen, kitschigen Dekors, anarchischer Straßenästhetik, techno-surrealen Bilderwelten, Schaufensterreihen, verrauchten Cafes, heruntergekommenen Kneipen, Süßwarengeschäften, schicken Boutiquen, Antiquariaten, verbotenen Türen, lasziven Nachtklubs und historischen Bauten, dazu die altersschwache Tram und das Menschengewühl. Die Stadt meint es gut mit ihren Gästen, sie überzieht all die vielen Schichten mit dem verführerischen Puder der Gastfreundschaft. Sobald sie jedoch ihre eigenen Bewohner erkennt, treibt sie die verwirrendsten Überlebensspiele mit ihnen.

Dennoch gibt es Versuche, Wege und Möglichkeiten zu überleben...

Angetrieben von einem inneren Drang, sich dem Überlebensspiel der Stadt zu stellen, startete eine Gruppe von Architekten und Studenten verschiedener Universitäten im Jahr 2002 das Projekt Istatistiklal.

Anfangs hatte man weder an eine bestimmte Laufzeit, noch Strategie, noch Zielvorgabe gedacht. Es ging lediglich darum, einen enigmatischen Organismus durch eine wissenschaftliche Methode zu bestimmen: durch bloßes Zählen. So objektiv wie möglich vorgehen, so mathematisch wie möglich. Man entschied sich für die Statistik als Waffe im Überlebensspiel. Mit statistikbasierten Analysemethoden und Mitteln der Städteforschung ausgerüstet, begann das Team seine Untersuchungen und stellte bald fest, dass die Stadt immer neue Analysemethoden verlangte. Je mehr man untersuchte und auszählte, desto mehr drängten sich alternative Methoden der Aufzeichnung und der Auszählung auf. Je mehr gezählt wurde, desto mehr Zeichen wurden zu Tage gefördert, die auf die enigmatische Einheit der Stadt deuteten.

Das Zählen wurde zur Manie. Zunächst zählte man rein quantitativ, einfach, um die Summe des Gezählten in ganzen Zahlen ausdrücken zu können. Dann entwickelte das Team neue Methoden und Möglichkeiten eines qualitativen Zählens: Blumentöpfe, Treppenstufen, Fahrzeuge, Personen, Gesten, Gewohnheiten usw. Das Überlebensspiel der Stadt wurde mit neuen Dimensionen und Schichten angereichert. Und wie sich das System ständig selbst zerlegte, lösten sich auch diese Dimensionen im schnellen Tempo des Stadtlebens wieder auf; jeder denkbare Eingriff wurde kurzerhand in den Prozess aufgesogen. Es sammelten sich Hunderte von Karten, Graphiken, Diagrammen, Zeichnungen, Fotos und Texten an. Sie boten eine Fülle an Informationen über Themen wie »Überwachung: wie wir beobachtet werden«, »Konsum: wie wir essen«, »Fußgänger: wie wir gehen: die Anforderung dieser Achse« und schließlich: »Zahlen: was wir für die Istiklal und diesen gigantischen Organismus in Ziffern bedeuten«.

Der Natur des Spiels entsprechend zeigte das Projekt immer wieder andere Wege auf. Mit jedem Weg entstand eine neue Produktion. Schließlich legen unterschiedliche Spieler desselben Spiels unterschiedlich Zeugnis ab. So leisten sie ihren Beitrag zum Projekt als fortlaufendes Werk. Zu den Nebenerzeugnissen zählen bisher: Publikationen. Ein Vortrag. Ein Design. Ein Video. Eine Ausstellung. In seiner Iteration zeigt sich das Projekt hier in Form einer Installation, durch die drei der Spieler – Ertuğ Uçar, Simge Göksoy und Erhan Muratoğlu - die Istiklal im Raum des ZKM neu verorten.

Text: Başak Şenova

[1]: Istiklal bedeutet Unabhängigkeit. Die Istiklal-Straße ist aus der Literatur auch bekannt als »Grand Rue de Pera«. Die Läden in dieser überaus belebten Geschäftsstraße hatten bis in die späten 1950er Jahre hinein überwiegend europäische, griechische, armenische oder jüdische Besitzer. Auch eine Reihe ehemaliger Botschaften - heute Generalkonsulate - befinden sich hier. ^