Sarkis:
Beyoğlu-İstanbul, 2002

Audio-Installation,
Mini-Disks auf CD, 6:00 Min, Ton
Sarkis


Erinnerung, Zeit, Gefühl, persönlich Erlebtes sind vorherrschende Themen in Sarkis’ Werk. Dinge, Materialien werden in seinen sorgsam durchdachten und arrangierten Inszenierungen zu Auslösern für Momente der Erfahrung. Dieses Universum lässt sich auch in den drei Arbeiten der Ausstellung wieder finden. Bei der 2002 entstandenen Klangreportage Beyoğlu – Istanbul sind Geräusche des gleichnamigen Istanbuler Stadtviertels zu hören. Aufgenommen bei einem Gang durch die Hauptstraße Istikal Caddesi, dokumentiert sie einen Einblick in eines der ältesten und europäisch geprägtesten Viertel Istanbuls. Sei es das Klingeln der historischen Tünel-Bahn, Kneipengeräusche, Gesprächsfetzen, Straßenhändler, die auf Schubkarren ihre Wahre anpreisen, ein Popsong der britischen Gruppe Pet Shop Boys, ein türkisches Liebeslied, die Darbuka (türkische Trommel) - es offenbart sich ein klangliches Panoptikum des Istanbuler Alltagslebens.

Der Künstler, geboren und aufgewachsen in Beyoğlu, unterlässt jegliche Bearbeitung des Tonmaterials und verstärkt dadurch den Reportagecharakter. Bei dem Video Au Commencement, le decalage [Am Anfang, die Verschiebung] das ebenfalls 2002 entstanden ist, sind Aufnahmen eines Sturmes über Istanbul zu sehen. Die Kameraeinstellung bleibt dabei immer gleich und bei dem kurzen Aufleuchten eines Blitzes ist eine Terrasse mit Tisch und Stuhl zu sehen. Mehr zu erahnen als zu erkennen erstreckt sich hinter dem Terrassengeländer der Bosporus. Das Mysteriöse und Geheimnisvolle, das Istanbul oft zugesprochen wird, ist hier eingefangen durch die Aufnahmen der Naturgewalten. Nach Sarkis führen Licht und Donner einen Dialog mit der Stadt. Doch das Naturereignis wurde manipuliert und erscheint nur auf den ersten Blick vertraut. Erst auf den zweiten Blick offenbart sich, dass zuerst der Donner ertönt und danach der Blitz zu sehen ist.

Autel des croyances & utopies [Altar des Glaubens & der Utopien] ist eine Installation aus vier Teilen, die zwischen 1979 und 2001 entstand. Hauptelement ist eine Kiste, die - wie ein Altar - mit über 200 Votivbildern aus orthodoxen Kirchen in Armenien und Griechenland versehen ist. Doch der Schmuck und sein Aufbewahrungsort verweisen nur der Form nach auf einen religiösen Kontext. Die Verfremdung von Objekten und Materialien ist Sarkis’ Werk zu eigen, der dadurch auf eine andere kulturgeschichtliche oder soziologisch identifizierbare Ebene hinweisen möchte. Auf dem Altar befindet sich ein Buch, doch ist es wider Erwarten keine Bibel. Es handelt sich um eine Schrift von Uwe Fleckner und Sarkis, welche neben einem längeren Text zum Werk des Künstlers auch 42 Texte von Philosophen wie Platon, Sokrates oder Derrida zum Thema Erinnerung beinhaltet.

Der Kunsthistoriker Uwe Fleckner war der erste, der im Zusammenhang mit den Werken von Sarkis eine Verbindung zu Aby Warburgs Gedächtnistheorie herstellte. Auf der Rückseite der Kiste ist eine Neonschrift angebracht, die in französischer Sprache den Satz »Draußen schneit es« bildet. An der Wand über der Kiste sieht man einen Bilderrahmen mit Postkarten. Auf der linken Seite ist in deutscher Sprache zu lesen: »Der Traum«. Adressiert sind diese Karten an russische Avantgarde-Künstler wie Alexander Rodtschenko und El Lissitzky. Diese Anordnung macht eine in Sarkis’ Werk bestimmende Komponente deutlich: Das Geheimnisvolle oder Verborgene wird über Dingliches inszeniert. Durch das Faktische wird eine Distanz geschaffen, die den Verweis auf andere Kontexte zu einer leisen Präsenz des Gemeinten werden lässt.

Text: Carmen Beckenbach