Füsun Onur:
Istanbul Obsession, 1994

Installation,
Gewebe, Tüll, Perlen, Metall,
sechsteilig, je ca. 165 x 70 cm
Sammlung Fonds National d'Art Contemporain, Puteaux


Füsun Onur war die erste Künstlerin, die die Idee des zeitgenössischen Dialogs und Konzepts förderte und sich somit für den Einzug der Avantgarde in die Istanbuler Kunstszene Anfang der 1970er Jahre einsetzte. Ihr reichhaltiges und vielschichtiges Oeuvre umfasst Gemälde und Installationen, Politisches und Poetisches.

Füsun Onur verwendet bereits genutzte Materialien, die sich in ihrem Haus und ihrer Umgebung finden, beispielsweise alte Stoffe, Stickereien, Spitze, Tüll, Goldbordüren, Perlen, Möbel und Alltagsgegenstände wie Plastikbecher, Bälle und Spielzeug und schafft daraus minimalistische Skulpturen, Installationen und Objekte. Ihre Werke stecken voller Erinnerungen und sprudeln vor Phantasie und spielerischen Elementen. Wenngleich sie hauptsächlich fertige Gegenstände einsetzt, bearbeitet sie diese so lange, bis sie sich in etwas anderes verwandeln. Durch die einfühlsame Zusammenstellung der Gegenstände nach Form, Farbe und Textur sowie durch ihre Anordnung in bestimmten Abständen zueinander schafft sie einen spezifischen Rhythmus; mit abstrakten Formen des Minimalismus durchdringt sie die Objekte, füllt sie mit Erzählungen und öffnet so die abstrakten Formen für einen Prozess, in dem diese eine Bedeutung erhalten.

Die Künstlerin wurde in einem Haus direkt an der Küste auf der asiatischen Seite des Bosporus geboren und lebt auch heute noch dort. In Onurs Werk spiegeln sich daher direkt oder unterschwellig die ständigen und mysteriösen Veränderungen Istanbuls und des Bosporus wider. Ihr Beitrag zur Ausstellung Call me ISTANBUL ist mein Name besteht aus drei Werken, in der die Stadt von ihrem persönlichen Standpunkt aus betrachtet wird und die sich gleichzeitig auf die sehr spezifischen kulturellen, sozialen und historischen Strukturen von Istanbul beziehen, die bereits der Vergangenheit angehören. Zusätzlich zu ihren beiden früheren Werken Istanbul (1993) und Istanbul Obsession (1994) hat sie speziell für diese Ausstellung ein neues Werk geschaffen, das den Titel der Ausstellung trägt.

Istanbul besteht aus einer wunderschönen Schachtel, die an fein gearbeitete Schmuckkästen erinnert. Die Schatulle ist mit schwarzem Samt bezogen und mit rosa Satin ausgeschlagen. Wie in Schmuckkästen, in deren Futteral die Form eines Schmuckstückes ausgespart ist, um das wertvolle Stück zu schützen, hat Onur die Hohlform der Buchstaben „Istanbul“ ausgespart. So wird ihre Präsenz durch ihr Fehlen dargestellt. Onur bezieht sich auf die wehmütigen Erinnerungen an das alte Istanbul, das einst selbst wie ein Edelstein funkelte und nun für immer verschwunden ist. In den Erinnerungen besteht dieses Bild auf schmerzliche Weise fort.

Auch in Istanbul Obsession thematisiert Füsun Onur die nostalgischen Erinnerungen an Istanbul, in diesem Fall vor allem Erinnerungen an seine Geschichte und Architektur. Die Installation besteht aus sechs Kleidern, die aus glänzendem Tüll, antiken Goldbordüren, Bändern und Stickereien gefertigt wurden. Sie hängen frei von der Decke oder vor Fenstern und stellen so eine Beziehung zur Architektur her. Der Schnitt der Kleider spielt auf die traditionelle osmanische Form des Bogens an, und auch die Stoffe erinnern an die osmanische Zeit. Geometrische Muster und goldene Stickereien auf transparentem Stoff werden je nach Blickwinkel des Betrachters sichtbar oder unsichtbar. Die Transparenz und glänzende Oberfläche der Stoffe sowie die frei hängende Positionierung der Stücke unterstreichen das spielerische Element der Installation und verweisen gleichzeitig auf den Raum, in dem die Installation untergebracht ist.

Ihr drittes Werk Call me Istanbul (2004) ist eine speziell für diese Ausstellung und diesen Raum geschaffene Installation. Sie verkörpert den Puls der verschiedenen Strömungen und Richtungen in Istanbul. In dieser Arbeit stellt Onur das Gehen als eine direkte körperliche Interaktion mit der Stadt dar und versucht, die Geräusche in der räumlichen und zeitlichen Dimension festzuhalten. Die Arbeit zeigt zwei verschiedene Arten von Fußabdrücken: die von Männern in goldenen und die von Frauen in blauen Farben; die beiden Fußabdrücke bewegen sich in entgegengesetzte Richtungen. Sie sind direkt auf den Boden aufgebracht und ermöglichen es den Besuchern, zwischen ihnen umher zu gehen. Wenn man ihnen jedoch folgt, endet der Spaziergang in eine Spirale, einem symbolischen Abgrund. Diese Form sowie die rhythmische Anordnung der Fußabdrücke stellen eine unendliche Bewegung dar, eine Bewegung nach Innen und Außen, welche die Komplexität Istanbuls verdeutlicht.

Text: Fulya Erdemci