Gülsün Karamustafa:
The Settler, 2003

Video-Installation
Doppelprojektion über Eck
5:17 Min, Ton, Farbe
Gülsün Karamustafa

 
Gülsün Karamustafa bezeichnet sich selbst als Künstlerin aus Istanbul. Sie legt dabei großen Wert auf den Ort ihres Schaffens, der ihre künstlerische Arbeit spürbar prägt. Doch dieser Ort war nicht immer frei gewählt. Auf Grund ihrer persönlichen Auseinandersetzung mit der türkischen Politik Anfang der 1970er Jahre politischer Auseinandersetzungen in der Türkei hatte sie sechzehn Jahre lang, bis in die Mitte der 80er Jahre, keinen gültigen Reisepass und konnte im Gegensatz zu anderen Künstlern und Künstlerinnen ihr Heimatland nicht verlassen. Aus dieser Abgeschiedenheit und Nicht-Kommunikation heraus ist das Interesse erwachsen, an einer Auseinandersetzung mit der eigenen Situation, der Großstadt Istanbul, der inneren Migration und dem Nomadismus in der Türkei sowie der Frage nach Identität als Folge ideologischer und psychologischer Prozesse.

In ihren Werken untersucht Gülsün Karamustafa einer Soziologin oder Anthropologin gleich historische und soziale Zusammenhänge orientalischer Kultur. Oft arbeitet sie mit Materialien und Gegenständen, die einen kulturgeschichtlichen Verweischarakter besitzen und die das Zusammentreffen unterschiedlicher Kulturen und Religionen, das Hybride, zum Ausdruck bringen. In Rückgriff auf historische Überlieferungen bewegen sich Karamustafas künstlerischen Kommentare zwischen sinnlich-narrativen und ironisch-kritischen Erzählungen zur gegenwärtigen Situation.

Seit Ende der Neunziger Jahren verwendet die Künstlerin vielfach bereits vorhandenes Bildmaterial orientalischen wie auch abendländischen Ursprungs, das sie meist fragmentiert, demontiert und neu zusammensetzt. Dabei greift die Künstlerin sowohl auf private als auch auf öffentliche Bilder der Alltagskultur und der Medien zurück. Sie eröffnet sich Bildquellen der Kunstgeschichte ebenso wie die des Kunstgewerbes.

Le visage turc (1998) untersucht und filtert die Repräsentation von Staatlichkeit und nationalen Veränderungen. In ihrem Triptychon kombiniert Karamustafa Fotos, die einer gleichnamigen, propagandistischen Fotoserie eines türkischen Magazins aus dem Jahre 1938 entnommen sind. Diese Bilder, welche Offenheit, Ordnung, Jugend, Zukunft und eine gewandelte Rolle der Frau postulieren, stehen am Anfang eines Aufbruchs in eine neue Türkei. Sie erinnern ebenfalls an nationalsozialistische und sowjetsozialistische Fotografien, »süßlich dümmliche Volksbilder« (Boris Michailov) aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg.

Mitte der 20er Jahren wurden in der Türkei von Mustafa Kemal Atatürk zahlreiche Reformen nach westlichem Vorbild eingeleitet. So verweisen die von Karamustafa eingearbeiteten Schriften auf den kompletten Austausch des Alphabets, der einen reichhaltigen Stilmix zur Folge hatte. Der Typographie dieser Zeit ist der Einfluss arabischer Buchstaben auf die lateinische Schreibweise stark anzusehen und so scheint, parallel zu westlichen Entwicklungen, die Behauptung einer nationalen Identität in Frage gestellt.

Wie in früheren Arbeiten beschäftigt sich Karamustafa in ihrer jüngsten Installation The Settler (2003) mit einem Thema, das Teil der Geschichte auf dem Balkan ist - dem durch Kriege und ökonomische Veränderungen erzwungenen Ortswechsel. Auf zwei Videoprojektionen erzählt Karamustafa die Geschichte zweier Frauen, die links und rechts eines Flusses leben, der die Türkei von Griechenland und Bulgarien trennt. Die zwei Leinwände sowie die Filme werden zu Platzhaltern unterschiedlicher Wurzeln, Erinnerungen und Zugehörigkeiten. Diese Trennung durchbricht Karamustafa, indem sie die ihre Bilder, über eine virtuelle Grenze hinweg, auf die jeweils andere Projektionsfläche wirft und umgekehrt.

Neben dem Blick auf die Grenzlinien und den damit verbundenen Konfrontationen liegt die Stärke von Gülsün Karamustafas Arbeiten im Einfangen und Herausarbeiten poetischer Momente, welche die aktuelle Situation in ihren historischen Bezügen und Bildverweisen widerspiegeln.

Text: Thomas Thiel