Esra Ersen:
Hello! Where is it???, 2000

Video auf DVD, 7:22 Min, Ton, Farbe
Esra Ersen

 
»Istanbul is the meeting place of East and West, an edge of chaos teeming with diverse and unstable factors out of which are created a variety of new meanings.« [1]

Die hier vorgestellten Arbeiten von Esra Ersen offenbaren eine kritische Sicht auf die Stadt Istanbul, die Vielfalt ihrer kulturellen Identitäten, ihre sozialen und ethnischen Wirklichkeiten, ihren Charme und ihre Probleme als Metropole im Zeitalter der Globalisierung. Der Einzelne inmitten der Großstadt, der Versuch der Bewahrung einer eigenen Identität in der Fremde und die spezifische Lage Istanbuls als Bindeglied zwischen Okzident und Orient sind Themen, die hier zur Sprache kommen.

In burası disney dünyası, This is the Disney World [Dies ist Disney World] ist es eine Gruppe von Straßenkindern, denen Ersen auf ihren Streifzügen durch die Stadt folgt. Ein Leuchtreklameschild im Vergnügungsviertel Istanbuls wirbt mit den Lettern FUN CITY. Die interviewten Jugendlichen und Kinder singen populäre Songs, erzählen Geschichten aus ihrem Leben oder Geschichten, die sie sich ausdenken. Sie handeln von Liebe, Gewalt, dem Schicksal, dem Erwachsen werden, Vätern oder der Stadt. Ersen dokumentiert mit ihrer Kamera, sie lässt die Kinder und Jugendlichen sprechen, mischt sich selbst nicht in die Dialoge bzw. Unterhaltung ein, bleibt aber als Gesprächspartnerin präsent. Die Straßenkinder haben Vertrauen zu ihr und erzählen ihr die traurigen Geschichten ihrer schon zu früh zu Ende gegangenen Kindheit und Jugend. Die Hoffnungslosigkeit der Situation wird durchbrochen durch erfundene Geschichten eines schöneren Lebens. Kurze Momente des Glücks und der Hoffnung – wären da nicht die mit Lösungsmittel getränkten Lappen der Kinder, die letztendlich als traurige reale Zuflucht fungieren.

Auch für Brothers and Sisters [Brüder und Schwestern] wird Ersen Teil einer Gruppe. Sechs Monate lang begleitet sie eine Anzahl von illegalen afrikanischen Immigranten, lernt ihre Welt kennen, deren soziale Begrenzung und kulturelles Umfeld sie in ihrem Video beschreibt. Ersen macht auf die kulturellen und sozialen Konflikte der Einwanderer mit der muslimischen Bevölkerung Istanbuls aufmerksam. Sie lässt die Menschen von ihren Sehnsüchten, Wünschen und Träumen von einem besseren Leben in einem anderen Land erzählen und zeigt die bittere Realität eines Lebens am Rande der Gesellschaft, das geprägt ist von Marginalisierung, Ausgrenzung und Vorurteilen.

In Alo!!! Orasi Neresi?, Hello!!! where is it? [Hallo!!! Wo ist es?] charakterisiert Ersen die spezifische geografische Lage und Bedeutung Istanbuls als Stadt zwischen zwei Kontinenten, die die spannungsreichen Gegensätze von Europa und Asien miteinander verbindet. Die Bosporus Brücke trennt und verbindet die beiden Stadtteile Istanbuls miteinander. Das Video zeigt drei Autofahrten über die Brücke. Der Betrachter hört die beiläufigen Gespräche der Fahrer und Beifahrer, deren Unterhaltungen unterschiedlicher nicht sein könnten – vom Smalltalk bis zum Streit – doch an einer Stelle der Gespräche wird immer die Brücke thematisiert, wenn beispielsweise einer der Fahrer seine depressiven Gefühle beim Überqueren derselben anspricht. Auch hier bleibt Ersen die unbeteiligte Beobachterin und Regisseurin, die zwar anwesend ist, sich aber nicht aktiv in die Handlung einmischt. Das Video spielt bewusst mit den sozio-geografischen Klischees und wirft dabei einen leicht ironischen Blick auf die Frage des kulturell Anderen.

Text: Sabine Himmelsbach

[1]: Yuko Hasegawa, "Next Emergence from the Edge of Chaos", in: 7th International Istanbul Biennial, egofugal, Istanbul 2000, S. 45. ^