Nazif Topçuoğlu:
Nükleer Oyun (Nuclear Game), 2000

Fotografie
Farbe, ca. 100 x 125 cm
Nazif Topçuoğlu, Courtesy Galeri Nev Istanbul

 

Über die Schwelle des Verlangens

Fotografien von Nazif Topçuoğlu sind frappierende Konstruktionen, die zwischen Dramen des Absurden und Erotika schwanken. Seine Bilder eröffnen mit verstecktem Humor einen flüchtigen Blick auf die merkwürdigen Aktivitäten pubertierender Mädchen, gleichzeitig lassen sich unterschwellig die fleischlichen Fantasien des Künstlers erahnen. Dass die Fotografien wie Standbilder wirken, liegt an Topçuoğlu Arbeit mit Bildern im Sinne einer filmischen Erzählweise - er isoliert zur genaueren Betrachtung bewusst einen sonderbaren Moment.

Die Arbeiten, die für diese Ausstellung ausgewählt wurden, sind Teile einer Serie, die der Künstler im Jahr 2001 in der Galerie Nev in Istanbul zeigte. Sie stellen junge Mädchen dar, die vor Kulissen ohne jeglichen kulinarischen Bezug rohes Fleisch und tierische Eingeweide in ihren Händen halten.

Der sinnliche Unterton dieser Fotografien treibt kein Spiel mit dem weiblichen Körper im Sinne von Nacktheit. Stattdessen zeigt sich die beunruhigende Nebeneinanderstellung von blutrotem Fleisch (direkt vom Schlachttisch des Metzgers) und makelloser jugendlicher Perfektion verantwortlich für die beiläufige erotische Aufladung der Bilder. Das Schulmädchen nimmt als alleinige Darstellerin mit ihrem Blick den Betrachter in Beschlag. Vertieft in ihr nachdenkliches Spiel beschäftigt sie sich mit dem rohen Fleisch und stellt Szenen einer häuslichen, mütterlichen Tätigkeit oder einer anderen psychosexuellen Haltung nach. Und während das männliche Auge von ihrem zufällig unter dem Faltenrock der Schuluniform entblößten Schenkel angezogen werden mag, wirkt ihr kühl auf denselben Betrachter gerichteter Blick ernüchternd. Das rohe Fleisch, das auf Gewalt und, von seinem emotionalen Gehalt her, auf das Leben selbst verweist, verlockt und lenkt ab. Die Koppelung von rohem Fleisch mit jungen Mädchen und die Anzeichen von Gewalt, die der vermeintlichen Unschuld anhaften, werden zu Anhaltspunkten, anhand derer die zugrunde liegende Bedeutung zu entziffern ist. Die Fotografien von Nazif Topçuoğlu wecken Assoziationen von Lust und Gewalt, von Versuchung und Angst, von Gefahr und Tod.

Topçuoğlu fotografiert seine Modelle in Wohnräumen, die durch Blumentapeten und Polsterbezüge gemäßigt wirken. Oft mischt sich die Ecke eines vergoldeten Bilderrahmens, oder einer Landschaft in die Geometrie dieser Kompositionen hinein und erfüllt eine zweifache Funktion, sowohl als formales Element wie auch als soziologisches Kennzeichen eines Klassenprivilegs. Teppiche und Wandbehänge, bestickte Vorhänge und Tagesdecken (die Handarbeit von Frauen) verleihen diesen Umgebungen eine gewisse Normalität (Werte der Mittelklasse).

Indem ihre Gegenwart eine Versuchung, ihr Blick jedoch ein Verbot ausdrückt, weisen die Mädchen auf eine neue Ordnung von Aggression und Rache hin, die versucht männlicher Herrschaft Einhalt zu gebieten. Angesichts der politischen Situation in der Republik Türkei, die seit ihrer Gründung im Jahr 1923 eine Neubewertung der Beziehung zwischen Mann und Frau in Angriff genommen hat, werden diese Fotografien zu bedeutsamen kulturellen Anspielungen. Innerhalb dieser ungewöhnlichen Logik erfüllt das junge Mädchen, das als Subjekt dieser Fotografien posiert, ihre Aufgabe im Oeuvre des Künstlers mit Gelassenheit und Selbstbewusstsein. Sie wird zum Zeugen berufen, nicht nur für das Fleisch zwischen den Dielenfußböden, sondern auch für den Betrachter. Dieser nimmt mit einer Facette von Sein und Lust eine der wichtigsten Angelegenheiten der Existenz selbst wahr. Genährt aus derselben Quelle, die auch die Imagination von Hieronymus Bosch, Balthus, Lewis Carroll, Hans Bellmer, Vladimir Nabokov und anderen anregte, geleitet Topçuoğlu den Betrachter an die Schwelle des Verlangens, das von einer Spur impliziter, in der Luft schwebender Gefahr zurückgehalten wird.

Text: Gülşen Çalik