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Diese Ausstellung heißt Istanbul und handelt von Istanbul
Byzanz. Konstantinopel. Istanbul. Die Unstetigkeiten und Veränderungen Istanbuls greifen tiefer als die wechselnden Namen einer Stadt, die über fünfzehnhundert Jahre lang Hauptstadt eines Kaiserreichs war, sich jedoch nie dem westlichen Ideal einer exakten Planung anpasste.
Festgeschriebene Gesetze eines Gesamtplans hätten jedoch nie derartig lebendige Stadteile hervorgebracht wie etwa Kasimpasa oder Tarlabasi.
Scheinbar setzt sich Istanbul über alle Vorschriften hinweg und erhebt stattdessen Maßlosigkeit, Zufall und Chaos zu den Elementen seines Gesamtplans. Es sind nicht nur die Monumente und öffentlichen Plätze, für die Istanbul berühmt ist, die das Gesicht der Stadt bestimmen. Unter ihrer Oberfläche und jenseits ihrer Türme eröffnen sich andere Welten - enge
und intime Gassen, Schatten, hinter denen sich Erscheinungen
verbergen, Orte des Zufalls und Pforten zu Abwegen. Diese nächtlichen Brüche und verborgenen Risse sind ebenso Bestandteil des städtischen Gewands Istanbuls wie sein Erscheinungsbild bei Tage und sein sonnendurchflutetes Ganzes.
So sehr Istanbul eine Stadt antiker Ikonen und der Konzentration auf das Sichtbare ist, so sehr ist sie zugleich auch eine Stadt des Hörbaren – der flüchtigen Geräusche und des akustischen Geschehens.
Diesem akustischen Geschehen verschafft die Ausstellung in Karlsruhe in kritischer Weise Gehör. Wie im gewaltigen urbanen Raum der realen Stadt multiplizieren sich auch im Ausstellungsraum vielfältige und unerwartete Ereignisse: Material fluktuiert. Geräusche absorbieren Stoffliches. Bilder und Gerüche, Strukturen und Stimmen vermengen das Tierische, das Technische und das Menschliche.
Come whoever you are. Istanbul ruft
Lange bevor Rem Koolhaas New York ‚las‘, schrieb Istanbul das Wort delirious in das Drehbuch der urbanen Fantasien. »Nicht unsere kritischen Fähigkeiten sondern die Struktur unseres Raumes schützen uns vor Delirium oder Halluzinationen«, schrieb Merleau-Ponty. Im Falle Istanbuls gibt es keinen solchen Schutz. Das Bild Istanbuls und das Thema
Architektur sind stets miteinander verbunden. Seine Tore, Moscheen, Paläste und Mauern ziehen Besucher aus allen Ländern an, seine Harems und Minarette werden seit Jahrhunderten in Gemälden und Stichen wiedergegeben, während heute seine Slums und behelfsmäßigen Wohnbautenbedeutende Fragen der Migration und Entwurzelung aufwerfen. Daher präsentiert die Ausstellung keine Modelle der Hagia Sophia oder Entwürfe für den Taksim Platz, sondern zeigt Wege auf, wie Istanbul funktioniert – als eine Art kreativer Prozess, eine fast genetische Kraft, die für Probleme der menschlichen Bedürfnisse eigenständig Lösungen, auch in Fehlern, findet. Das Sammeln von Müll wird durch den Straßenhandel zum Erfolg; Rufe zum Gebet ordnen Raum und Zeit; Stadtviertel und Nachbarschaften entstehen aus Unbeständigkeiten und
Widersprüchen. Architektonische Irrläufer überzeugen in Istanbul mehr als ‚wahre‘ Architektur. Eine der Stärken der Stadt ist es, das Dysfunktionale funktionsfähig zu machen - die Stadt als autopoetisches System, als sich selbst organisierendes Modell.
In gewissem Sinne konnte in Istanbul die Zukunft immer gelesen werden. So sollte Istanbul, bald nachdem Rom der Schauplatz der kaiserlichen Macht war, dessen Nachfolge als Hauptstadt des römischen Kaiserreichs antreten. War Istanbul zur Zeit nationaler Städte eine Weltstadt, so ist es jetzt, im Zeitalter der globalen Städte, zu etwas Anderem
geworden – einem neuen Stadt-Territorium, das schon heute einen
Ausblick gibt auf die nicht-linearen Normen und strukturellen
Entwicklungen der Zukunft. Die Ausstellung bezeugt den fruchtbaren
Dialog, der im Moment zwischen Istanbul als einem neuen städtischen
Ballungsraum und Architekten, Künstlern, Städteplanern, Designern und
Forschern stattfindet, die innerhalb dieses Raumes denken, arbeiten
und experimentieren. In ihren Ateliers und Laboratorien werden die
Grundmaterialien des urbanen Raumes gedehnt und geformt und - in einer
Kombination aus altem Handwerk und neuer Technologie, getrieben von
Überlebensinstinkt, Anspruchslosigkeit und einer nervösen Art von
Vertrauen – in Ideen, Bilder, Informationen, Geräusche, Installationen
und Texte verwandelt. Als wir mit den Vorarbeiten für diese
Ausstellung begannen, stellten wir sie uns als eine Schnittstelle vor,
die zwischen dem oberflächlichen Erscheinungsbild und den tieferen
Strukturen der Stadt vermitteln sollte. Im Laufe der Zeit begannen
wir, sie als durchlässige Membran zwischen Raum und Zeit zu sehen,
eine Art transparente Folie zwischen dem Istanbul der Gegenwart und
dem Europa der Zukunft. Man kann den Ausstellungsraum auch als
Schnittstelle begreifen, die für einen Moment das Gefühl vermittelt,
in einer Spalte, einem Intervall, einem Riss zu ‚hängen‘, der
sich zwischen Gegenwart und Zukunft, Istanbul und Karlsruhe, Türkei
und Europa erstreckt.
We call you Istanbul, but what will you
become?
Was meinen wir, wenn wir den ersten Satz von Herman Melvilles
berühmtem Roman »Moby Dick« (1851), »Call me Ishmael«,
paraphrasieren? Diese Frage ist nicht nur für die Zukunft Istanbuls,
einer Stadt mit ca. 17 Millionen Einwohnern von Bedeutung. Spiegelt
sich hier nicht auch die Zukunft Europas? Zuwanderung,
Klassenkonflikte, Informationstechnologie, illegale Einwanderung,
Schwarzmarkthandel, Unregelmäßigkeiten auf dem Immobilienmarkt,
Wohnraumknappheit, Veränderungen des Arbeitsmarktes,
Selbstmordattentate, globales Unternehmertum und Konkurrenzdruck
bestimmen zunehmend die Art und Weise, wie Menschen Stadtlandschaften
organisieren und begreifen. Wenn Istanbul ein Vorbild für die
zukünftigen Multi-Städte Europas ist, so müssen wir das flexible und
vibrierenden System verstehen, das Istanbul heute charakterisiert.
Diese Ausstellung ermöglicht die Begegnung mit einigen der Signale,
die von dieser Metapolis ausgehen.
- Text von Roger Conover -
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