Author:   H. Borowski  
Posted: 14.04.2004; 12:12:46
Topic: Fuat und Murat Şahinler | d
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Fuat und Murat Şahinler:
Minarette, 2004

Installation,
Neuinterpretation eines Minaretts,
Metallkonstruktion, Kunststoff
Fuat und Murat Şahinler, Courtesy ZKM

 
Fuat Şahinler und Murat Şahinler arbeiten oft gemeinsam, meist in Zusammenarbeit mit weiteren Künstlern, Architekten oder Schriftstellern. Fuat Şahinler, ein Kunstliebhaber und Lebenskünstler, arbeitet derzeit als selbstständiger Architekt und lehrt von Zeit zu Zeit an der Universität. Murat Şahinler ist gelernter Bildhauer und hat Innenarchitektur studiert, darüber hinaus beschäftigt er sich mit Ölmalerei. Seine vielschichtige Erfahrung spiegelt sich in seinem Werk wider, das so verschiedene Bereiche wie Zeichnungen und Bühnenbildgestaltung umfasst.

Das Werk der Şahinlers ist sowohl das Ergebnis ihrer alltäglichen Arbeit als auch ihrer langen und ergiebigen nächtlichen Unterhaltungen, vor allem über die kulturellen und architektonischen »Krankheiten«, »Unfälle« und »Wunder« des Stadtlebens, besonders in Istanbul. Ihre Studien konzentrieren sich vor allem auf den Konflikt zwischen öffentlichem und privatem Raum, zwischen Fragmentierung und Kontinuität. Sie ziehen kein Medium oder Material dem anderen vor, sondern setzen alle Medien und Materialien je nach ihrer Verfügbarkeit und nach den Anforderungen des jeweiligen Projekts ein. Mit Hilfe von Fotografie, Videos, Animation, Zeichnungen und Skulpturen schaffen sie unterschiedliche Arten von Projekten wie Installationen, Innenraumgestaltungen, Fassadengestaltungen etc.

Einzeln und gemeinsam haben die Şahinlers im Rahmen zahlreicher Workshops und Ausstellungen miteinander verwandte Projekte zum städtischen und öffentlichen Raum entwickelt. Das Projekt The Quay (2001), das zusammen mit dem Philosophen Ahmet Soysal für die 7. Internationale Istanbul-Biennale realisiert wurde, ist ein gutes Beispiel ihrer Arbeit. Das Projekt besteht aus Plakatwänden, einer Messewand im Ausstellungsraum, einem Film und einem bisher nicht realisierten Amphitheaterplan für das Bootshaus in Dolmabahçe. Das Projekt, besonders der Bereich des Dolmabahçe Palasts, verdeutlicht den Konflikt zwischen öffentlichem und privatem Raum, zwischen Land, Meer und der Küste.

In der Istanbul Pedestrian Exhibition I: Nişantaşı (2002) schuf Fuat Şahinler sein eigenes Werk, während Murat Şahinler mit jüngeren Künstlern zusammenarbeitete und eine Gruppe namens Independent Fake Movement gründete. Mit ihrem ortsgebundenen Projekt Park Cage (2002) weist die Gruppe Independent Fake Movement (Murat Bayındır, Enis Özbek, Ertuğ Sönmez und Murat Şahinler) auf die Fragmentierung des Raums hin. Das Projekt besteht aus den am Rand des Parks installierten mechanischen Skulpturen mit dem Namen »Silosonofil« und dem durch die Öffnung der Parkgrenzen geschaffenen Raum. Durch das Entfernen der Mauer und Abzäunungen erzielt Park Cage ein Aufeinandertreffen der Grünfläche mit dem Straßenraum und verbindet so die beiden bisher voneinander getrennten öffentlichen Räume. Darüber hinaus ist die Integration des Maçka Parks, eine der Terrassen von Istanbul, in den Fußgängerbereich geplant. Auch Fuat Şahinlers Projekt Untitled (2002) basiert auf einer seltenen Situation, nämlich dem Zurückweichen des privaten zu Gunsten des öffentlichen Raums. Im Rahmen des Projekts überdeckte er den vor dem Milli-Reasürans-Gebäude liegenden Platz sowie die Gebäudefassade mit einem riesigen Spinnennetz und wies damit auf die wohlgemeinten Bemühungen hin, durch Öffnen der Fassade im Erdgeschoss öffentlichen Raum zu schaffen; gleichzeitig unterstreicht er das Paradox, das dadurch entsteht, dass das Erdgeschoss des Gebäudes, also der als öffentlicher Raum gestaltete Bereich, den Fußgängern auf Grund des Niveauunterschiedes zum Bürgersteig nicht zugänglich ist.

An der Ausstellung Call me ISTANBUL ist mein Name beteiligen sich die Şahinlers mit einem neuen, speziell für die Ausstellung geschaffenen Projekt: Not To Be Or To Be (Bir Yokmuş, Bir Varmış, 2003-2004). Da sie in einer Stadt leben, deren Silhouette von dem Zusammenspiel der Minarette geprägt ist, war ein solches Projekt für sie geradezu unvermeidbar, insbesondere wenn man sieht, wie sehr das gesamte Panorama der Stadt durch eine leichte Modifizierung der Minarette, der im Stadtbild Istanbuls am häufigsten vorkommenden vertikalen Elemente, verändert wird.

Seit dem Staatsstreich und dem repressiven Regime in den 1980er Jahren und der gleichzeitigen Liberalisierung der Wirtschaft mit der nachfolgenden weiteren Integration der Türkei in die Weltwirtschaft hat Istanbul auf fast allen Ebenen, auch im Bereich des Stadtraums und der Architektur, tiefgreifende Veränderungen erlebt. Neben diesen Veränderungen, Umsiedlungen und Umstrukturierungen, der Schaffung von jeweils eigenen Zentren für die Geschäftswelt und den Finanzsektor, für Medien und Verkehr wurden moderne Gebäudekomplexe und vielgeschossige Bürohäuser gebaut. Die traditionellen Formen der islamischen Architektur haben diese Phase des Umbruchs jedoch überstanden. Wenngleich sich der Islam in der Türkei an neu entstehende kulturelle, soziale und technologische Entwicklungen anpasst und Neuerungen annimmt wie zum Beispiel das Kopftuch statt dem Tschador, den elektronischen Zähler statt den traditionellen Gebetsperlen, traut sich niemand, die traditionelle, aus der ottomanischen Klassik kommende Form der Moschee anzutasten.

Den Şahinlers gefällt die Idee, traditionelle islamische Formen mit modernen Mitteln und Technologie zu verbinden; sie entwerfen beispielsweise ein Minarett auf einem hydraulischen Hebemechanismus, das nur fünf Mal am Tag zu den Gebetszeiten erscheint. Es kann gleichzeitig als Hochhaus für eine einzelne Person interpretiert werden und macht sich somit über die unpersönliche Größe der Türme lustig. Wenn das Minarett nicht gebraucht wird, wird es einfach versenkt. In der Ausstellung Call me ISTANBUL ist mein Name arbeiten sie mit dem Klangkünstler Cevdet Erek, einem der Ausstellungsarchitekten, zusammen und verbinden das Minarett mit einem Klangprojekt, das sich auf den Ruf zum Gebet (Ezan) bezieht. Darüber hinaus befördert es die Besucher auf eine Höhe von acht Metern, so dass sie das Gebet von der Şerefe (dem Balkon des Minaretts) erleben und die Ausstellung aus der Vogelperspektive betrachten können.

Text: Fulya Erdemci