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Interview mit Thomas Y. Levin

Author:   Christoph Pingel  
Posted: 18.10.2001; 12:52:22
Topic: Interview mit Thomas Y. Levin
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Interview mit Thomas Y. Levin

von Carmela Thiele

Das Thema Überwachung und Sicherheit hat nach den Attentaten auf das World Trade Center und das Pentagon eine neue Dimension bekommen. Was bedeuten die neusten politischen Entwicklungen für das Thema der Ausstellung?

Thomas Y. Levin: Das Thema der Überwachung ist besonders in den USA – aber auch weltweit - nun aktueller denn je. Man fragt sich, ob nach dem 11. September eine ähnlich schlagartige Verbreitung der Überwachung und ein Abbau der Zivilrechte, also der Privatsphäre, zu beobachten sein wird wie Anfang der 90er Jahre in England nach den IRA-Terror-anschlägen. Sogar Skeptiker der totalen Überwachung werden jetzt mit einer ganz anderen Bereitwilligkeit ihre Privatsphäre im Namen der Sicherheit preisgeben. Das ist nicht ungefährlich. Indem die Ausstellung solche Fragen aufwirft, soll sie als Beitrag zur politischen Debatte um Sicherheit und Datenschutz, um Öffentlichkeit und Kontrolle, verstanden werden.

Inwiefern kann eine Kunstausstellung einen Beitrag zu solchen gesellschaftlichen Fragen leisten?

T. L.: Nach dem 11. September war zu lesen, dass plötzlich das Genre des Reality TV nicht mehr dieselbe Anziehungskraft haben würde wie vor den Anschlägen – als ob die traumatischen Fernsehbilder vom explodierenden World Trade Center die Faszination derartiger Echtzeitbilder verändert hätten. Echtzeitbilder sind aber eine Form von Überwachungsbildern - Überwachung ist oft, wenn auch nicht immer, Echtzeitübertragung. Die Ausstellung CTRL [SPACE] wurde von Anfang an als eine Untersuchung konzipiert, wie verschiedene Formen der Überwachung unsere Alltagskultur transformieren. Möglicherweise hat nun eine weitere Veränderung stattgefunden. Die Ausstellung liefert das Vokabular, um diese Entwicklung kritisch und historisch zu verstehen.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

T. L.: Ich könnte viele nennen. Aber nehmen wir eine frühe, historisch wichtige Arbeit: der "Time Delay Room" von Dan Graham (1974). Man kommt in ein Zimmer hinein und sieht sich auf einem Monitor, scheinbar in "Echtzeit". Dann spaziert man weiter in das nächste Zimmer und merkt plötzlich, dass man sich erneut in einem Monitor sieht – jetzt aber nicht mehr in Echtzeit. Das wirft die Frage nach der Lesbarkeit dieser Bilder auf: Wie weiss ich, ob ein Bild wirklich "live" ist? Ein weiteres Beispiel: Man möchte sich erleichtern und muss mit Erstaunen feststellen, dass vor der Toilette Überwachungsmonitore stehen, die die verschiedenen Toilettenkabinen systematisch abbilden. Das Bedürfnis zwingt den Besucher trotzdem hinein, und plötzlich entdeckt er, dass die Echtzeitbilder - und hier sind es tatsächlich welche - vom schwedischen Künstler Jonas Dahlberg "inszeniert" worden sind – und nochmals ist man mit der Lesbarkeit, mit der angeblichen "Zuverlässligkeit" der Überwachungsbilder konfrontiert.

Die Ausstellung CTRL [SPACE] soll die Problematik der Überwachung und der Datenüberwachung auf vielen Ebenen sichtbar machen. Welche Ebenen sind das?

T. L.: Gerade dieses Sichtbarwerden ist das Problem. Was man traditionell unter Überwachung versteht, Videoüberwachung, Bilder, dieses Sehbare fällt bei der Datenüberwachung weg. Es geht darum, inwiefern man alltäglich durch ganz banale Aktivitäten wie Bankautomat- und Kreditkartenbenutzung, Handybenutzung, Kundenkartenbenutzung kontrollierbar wird. Das alles produziert eine Menge Daten, die, sobald sie zusammengefügt werden, eine Form von Porträt, einen "datashadow" erzeugen, der die Person auf seine Bewegungen, seine Einkäufe, seinen Datenschattenriss reduziert. Interessanterweise ist – neben dem investigativen Journalismus - die engagierte, kritischen Kunst eine wichtige Quelle für die Bearbeitung dieses Phänomens. Netzarbeiten können einen datashadow, der aus öffentlich zugänglichen Daten zusammengefügt ist, sichtbar machen.

Im Konzept der Ausstellung nimmt die Darstellung des Ursprungs des Prinzips der Überwachung, Bentham, viel Raum ein. Hat sich dies auch in der Ausstellung niedergeschlagen?

T. L.: Ja, unbedingt. Buchstäblich indem wir Texte und Zeichnungen von Bentham zeigen, aber auch verwandte Projekte wie z. B. den Umbau eines panoptischen Gefängnisses durch den niederländischen Architekten Rem Koolhaas. Aber auch, weil die panoptische Logik, das verinnerlichte Gefühl jederzeit überwacht zu werden, mehr oder weniger jede Form der Überwachung definierend fasst. Das gilt auch, wenn wir es mit einer spielerischen Umfunktionierung dieser Logik zu tun haben. Auch dann ist das Thema dialektisch präsent.

Thema Big Brother: Das ist ja letztendlich eine Spiegelung des panoptischen Blicks im Bereich der Unterhaltungsindustrie. Wie wird das in der Ausstellung thematisiert?

T. L.: Das Phänomen Big Brother ist ein Indiz für den Wandel von der ursprünglichen, allegorischen Bedeutung von Big Brother nach Orwell - als Synonym für totalitäre Kontrollmaßnahmen, denen man nie entkommen kann - zu einer ganz anderen, um mit Nietzsche zu sprechen, einer fröhlichen panoptischen Wissenschaft, wo Leute sich mit Freude kontrollieren lassen. Das ist letztendlich der Sieg Big Brothers. Die Leute reißen sich darum, sich unterwerfen zu können. Der Zynismus der Fernsehsendung ist nicht zu überbieten. Fast wichtiger als die TV-Ebene ist die parallel laufende Internetversion. Das Phänomen hat auch mit der Webcam-Kultur zu tun, also mit Echtzeitkameras, die an das Internet angeschlossen sind. Diese Art des Cybervoyeurismus ist berühmt geworden durch JenniCam, das Projekt einer jungen Frau in Washington, die ihr Leben freiwillig permanent zur Schau gestellt hat. Das Fernsehprogramm ist eigentlich zu vernachlässigen, weil es eine Zusammenfassung der Highlights der letzten 24 Stunden zeigt. Die Ereignisstruktur entspricht nicht der Struktur der Überwachung. Überwachung ist, und das ist das Faszinierende daran, Leere, freie Zeit, Dauer, die Zeit zwischen Ereignissen.

Es geht also auch um die Genealogie einer neuen Zeitwahrnehmung?

T. L.: Ja, genau. In der Ausstellung gibt es einen Raum, in dem die Geschichte dieser Tendenz zur Dokumentation des Alltags ausgebreitet wird. Es beginnt mit dem berühmten Film "The American Family", der Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre lief. Ein Fernsehteam zog in das Haus der Loud-Familie ein und filmte deren Leben. Dieser von CBS gesendete Film löste eine bestimmte Faszination aus, weil man diese Art von Alltagsbanalitäten noch nie im Fernsehen gesehen hatte. Danach gab es weltweit viele Varianten – Big Brother, Survivor, Loft, Girls Camp usw. - , die dieses Prinzip aufgegriffen haben: In unserer Lounge kann man Ausschnitte aus "Big Brother", "Taxi Orange", "Das Wahre Leben" aber auch von "We Live in Public" sehen. Letzteres stellt eine Internetvariante da. Josh Harris lebte 120 Tage lang in seinem mit dreißig Echtzeit-Webcams versehenem Loft komplett öffentlich.

Wie sieht die Inszenierung der Ausstellung konkret aus?

T. L.: Die Ausstellung wird aus einer breiten Palette von Ausstellungsgegenständen bestehen. Von Fotografien, über Texte, über größere fotografische Wand- und Bodenarbeiten, viele interaktive Installationen, Videofilme und Roboter- und Netzarbeiten. Der Raum der Ausstellung selbst wird verwandelt in eine Art panoptisches Labor. Die Besucher werden das vielfältige Phänomen der Überwachung am eigenen Körper erfahren.

In den USA hat es schon zwei kleine Ausstellungen zum Thema Überwachung gegeben, 1987 im LACE in Los Angeles und 1997 am List Visual Arts Center des Massachusetts Institute of Technology, Cambridge (MIT). Wann begannen Künstler sich mit dem Thema zu beschäftigen?

T. L.: Es hat noch nie eine größere Museumsausstellung dieser Art stattgefunden. Als Thema in der Kunst kommt Überwachung seit mindestens vierzig Jahren vor. Wenn man das Thema großzügig interpretiert, kann man sagen, dass es das Problem des Realismus aufwirft. Warum diese Faszination angesichts der Überwachungsbilder, die ja primitiv sind im Vergleich zu den Produktionen des Hollywoodkinos? Es ist kein Zufall, dass diese Faszination in einem Moment aufkommt, wo durch die Digitalisierung der Status des fotografierten Raumes, des filmischen Raumes als Abbild in Frage gestellt wird. Der Indizcharakter der Bilder geht verloren. Zeigt heute ein Foto wirklich das, was es behauptet zu zeigen? Gleichzeitig haben wir das Phänomen der Echtzeit. Das ist eine Struktur, die scheinbar eine direkte Übertragung der Vorgänge verspricht. Diese Vorstellung steht diametral im Gegensatz zu den digitalen Eingriffsmöglichkeiten der heutigen Technik.

Nennen Sie bitte ein Beispiel aus den 70er Jahren.

T. L.: Die Frage nach der Lesbarkeit eines Videobildes, eines Echtzeitbildes, eines Close-Circuit-Loops, war schon in den sechziger Jahren bei den Pionieren Warhol, Dan Graham, Bruce Nauman virulent. Grahams Arbeiten mit Räumen des Digital Delay, die mit einer Verzögerung von sechs bis acht Sekunden arbeiten, sind Beispiele des Versuchs, den Leuten eine neue Sensibilität für die Besonderheiten dieser neuen Bildlogik zu geben. So wichtig damals in den sechziger Jahren die Close-Circuit-Installationen waren, so wichtig ist heute die Webcam-Kultur. Es ist eine schöne, unbekannte Arbeit von Andy Warhol in der Ausstellung. In " Outer and Inner Space" filmt er mit einer 16mm-Kamera seine Lieblingsdiva Edie Sedgwick. Man sieht Edie, die in die Kamera schaut. Ein hinter ihr aufgebauter Monitor konfrontiert den Betrachter mit einem Bild von Edie im Profil. Man versucht die Beziehung zwischen beiden Bildern herauszufinden. Welchen Status hat diese Aufzeichnung, woher kommt sie. Um dieses Problem komplexer zu machen, verdoppelte Warhol diese beiden Filmaufnahmen, so dass sich innerhalb der beiden Projektionen erneut die Frage nach der Beziehung zwischen den Zeitstrukturen der Bilder stellt.

In Deutschland gibt es eine lange Kultur des Datenschutzes. Die Angst vor der totalen Überwachung ist früh eingedämmt worden ist. Auf der anderen Seite scheint die Sensibilität für die Gefahren der Überwachung abgenommen zu haben. Das ist in USA anders. Wie verhält sich die Ausstellung zu diesem politischen Problem?

T. L.: In USA und England gibt es solche legislativen Bremsen so gut wie gar nicht. Das Resultat ist ein Ausmaß an Überwachung, das einmal hergestellt, so leicht nicht wieder abzuschaffen ist. Europaweit ist Überwachungs- und Datenschutz ein aktuelles politisches Thema. In den USA herrscht dagegen ein "wildwest" des Datenflusses. Es dominiert die Rhetorik der Bequemlichkeit. Geben Sie uns ihre Daten, dann bieten wir ihnen die verschiedensten Formen der Bequemlichkeit. Die Rhetorik der Bequemlichkeit ist ein brillianter Schachzug, um diese Daten zu erhalten, für die es einen Markt gibt.

[Carmela Thiele ist Leiterin der Abteilung Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des ZKM]